Kay Susan
mir den Atem und machte mich schwach und zittrig. Ich wußte nun, warum er mich so selten lobte –, es war offenbar nicht gut für mich, ich konnte nicht damit fertig werden. Irgendwie war es viel einfacher, seine freundliche, unerbittliche Kritik zu ertragen.
»Du bist müde«, sagte er. »Vielleicht sollten wir jetzt aufhören.«
»Nein, ich bin nicht müde, Erik, nicht im geringsten. Ich bin nur . . . , ich würde gern weitermachen, bitte.«
»Also gut.« Er wandte sich ab und begann Notenhefte durchzublättern; er ließ mir Zeit, mich wieder zu fassen. »Wir werden die Schlußszene aus Aida versuchen. Ich denke immer, diese Szene sollte in einem Brautkleid gespielt werden, findest du nicht? Ein junges Mädchen, das sich entschließt, mit dem Geliebten begraben zu werden, das lieber in seinen Armen unter der Erde stirbt, als ohne ihn zu leben. Ein schreckliches Melodram natürlich, aber man kann auf der Bühne fast alles bringen, wenn die Musik stark genug ist, um die Szene zu tragen. Im Kostümschrank ist ein Brautkleid. Vielleicht möchtest du es anziehen.«
Ich rührte mich nicht.
»Ein Brautkleid?« wiederholte ich verlegen.
Er sah mich an und schaute dann rasch weg.
»Es ist nur ein Kostüm«, sagte er kalt. »Nur ein Hilfsmittel, damit du den Charakter besser spürst. Doch, wenn du nicht willst, vergiß, daß ich es erwähnt habe.« Er klappte das Notenheft zu. »Vielleicht sollten wir diese Szene doch lassen. Du bist offenbar nicht bereit, den emotionalen Anforderungen des ›terra addio‹ gerecht zu werden.«
»Oh, doch!« erklärte ich empört. »Ich bin dazu sehr wohl in der Lage. Oh, Erik, laß es mich versuchen! Es ist eine so wunderbare Rolle, eine so schöne. Geschichte.«
»Ja«, murmelte er fast unhörbar und starrte auf seine Hände, die lautlos auf den Tasten lagen, »es ist eine sehr schöne Geschichte.«
Er sagte nichts mehr, und nach einem Augenblick eilte ich davon, um mich umzukleiden.
Im Unterschied zu den anderen Kostümen im Schrank war das Hochzeitskleid ganz neu und nach der letzten Mode aus schimmerndem weißem Satin geschneidert. Es paßte mir perfekt, als sei es nach meinen Maßen angefertigt. Erik hatte einen exquisiten Geschmack und einen ausgezeichneten Blick für Details. Ich fragte mich, wie viele Entwürfe er wohl verworfen hatte, ehe er sich für dieses bestimmte Kleid entschied. Perfektion, immer Perfektion. Mit weniger gab er sich bei keiner seiner Beschäftigungen zufrieden.
Mit großer Mühe faßte ich mich wieder und kehrte in das Wohnzimmer zurück.
»Erik . . . «
Er drehte sich langsam um, und während er mich anstarrte, glitt das Notenheft aus seiner Hand, und die losen Blätter flatterten zu Boden.
»Laß sie!« sagte er kurz, als ich eine Bewegung machte, um die Seiten einzusammeln. »Wir arbeiten ohne Begleitung. Fang mit dem Rezitativ an, ›Ahnend im Herzen‹ . . . «
Ich zögerte unsicher. Er wußte, daß Radames diese Szene beginnen sollte. Es war nicht fair, mich so unvermittelt mitten hinein zu stoßen.
»Fang an«, wiederholte er, und der unheimliche Ausdruck wachsender Wut in seiner Stimme wirkte auf mich wie die Sporen auf ein gezäumtes Pferd; ohne weiteren Gedanken stürzte ich mich in das Rezitativ.
» Ahnend im Herzen, daß man dich verdamme, hab in die Gruft, die man für dich bereitet, ich heimlich mich begeben, und hier, vor jedem Menschenaug’ verborgen, in deinen Armen sehn ich mich zu sterben. «
Ich wartete, daß er mir mit dem erwidernden Rezitativ antwortete, aber er wandte sich abrupt ab.
»Das war ein Fehler . . . ein schrecklicher Fehler! Christine, bitte geh in dein Zimmer zurück und zieh schnell dieses Kleid aus.«
Er schlang beide Arme mit einer so heftigen Bewegung um seine Brust, daß ich erschrak und besorgt einen Schritt auf ihn zuging.
»Bist du krank?« flüsterte ich entsetzt. »Bist du wieder krank?«
»Nein!« Seine Stimme war ein ersticktes Keuchen, das er im letzten Moment in ein bitteres Lachen übergehen ließ. »Ja, vielleicht . . . ist es doch eine Krankheit, in gewisser Weise. Geh in dein Zimmer und laß mich für eine Weile allein, meine Liebe, ja?
»Aber wenn du krank bist, sollte ich bei dir . . . «
»Verdammt!« schrie er und schlug mit der geballten Faust auf das Klavier. »Verdammt sei deine infernalische Unschuld! Du ahnungsloses Kind . . . verlaß rasch dieses Zimmer und verriegele deine Tür. Hast du mich gehört? Verriegele deine Tür!«
Ich raffte den Rock des Brautkleides und floh in mein Zimmer. Nie
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