Kay Susan
uns zu überwinden, und ich wäre für ihn kein Kind mehr.
Im Mondschein wirkte seine behandschuhte Hand täuschend normal. Sie sah warm und stark und merkwürdig beruhigend aus, nicht die Hand eines Ungeheuers und Mörders, sondern eines freundlichen, liebenden Mannes, der mit unendlicher Geduld auf ein kleines Hoffnungszeichen wartete.
Eine Kutsche rumpelte auf uns zu, in der etliche junge Herren saßen, die ganz offensichtlich angetrunken waren. Automatisch zog sich Erik beim ersten groben Zuruf von mir zurück.
»Nein, was für ein Glückstreffer! Eine Dame der Nacht. Schöne Dame, wollen Sie sich nicht lieber unserer angenehmen Gesellschaft anschließen?«
»So ist es richtig, Mademoiselle! Sparen Sie Ihre Gunst für Lohnenderes auf. Hier wartet adeliges Blut darauf, getröstet zu werden . . . ein schmachtender junger Edelmann, dem die Dame seines Herzens grausam den Laufpaß gegeben hat!«
»Verflucht, Edouard!« Aus dem dunklen Innern der Kutsche drang plötzlich eine vertraute Stimme. »Ihr betrunkenen, widerlichen Schweine, ich hätte niemals mit euch kommen sollen! Fahrt weiter, um Gottes willen!«
»Mein lieber Raoul, warum regst du dich so auf? Deine hübsche kleine Spröde hat dich fallenlassen. Sie sind doch alle gleich, diese Mädchen vom Theater. Dir eine gute, ehrliche Hure zuzuführen, ist doch wohl das mindeste, was ein Freund für dich tun kann. Und wen außer Huren findet man im Bois schon um diese Zeit? Kutscher, seien Sie ein guter Junge und fahren Sie an den Straßenrand.«
»Steig rasch in die Kutsche!«
Eriks Stimme war wie Eis, und ich gehorchte ohne Zögern. In meiner Hast, seinem kurzen Befehl zu folgen, zerriß ich den Saum meines Kleides. Die andere Kutsche schwankte nun gefährlich, als ihre Insassen auf der anderen Straßenseite ausstiegen. Drei junge Männer lachten heiser, als sie Raoul fröhlich aus der Kutsche zerrten, so daß er ganz unzeremoniell in den Schmutz fiel.
Erik sprang in unsere Kutsche, schlug die Tür zu und befahl dem Kutscher, er solle abfahren.
In diesem Augenblick schaute Raoul zu meinem Fenster empor und erkannte mich.
Oh, Gott! Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er mich sah! Verzweifelt drehte ich mich nach ihm um. Ich sah, daß er unserer Kutsche nachlief, bis er erkannte, daß er sie nicht einholen konnte, und aufgab.
Als ich mich wieder umwandte, merkte ich, daß Erik mich mit der gefährlichen Ruhe eines Raubtiers im Dschungel beobachtete, das seine Beute belauert.
»Leider hat dein junger Mann in der Wahl seiner Gesellschaft einen schlechten Geschmack, meine Liebe«, sagte er eisig.
Danach ignorierte er mich für den Rest der Fahrt und starrte brütend aus dem Fenster. Wie zerschmettert saß ich auf meinem Sitz.
Als wir das Haus am See erreichten, ging er geradewegs zu dem Klavier im Wohnzimmer und begann, auf den Tasten eine Reihe wilder Akkorde anzuschlagen. Er glitt rasch in die schwärzeste Laune, in der ich ihn je gesehen hatte. Verzweifelt bemühte ich mich, etwas zu finden, um ihn von dieser verheerenden Begegnung abzulenken.
»Soll ich für dich singen?«
Er hörte zu spielen auf und lehnte sich einen Augenblick zurück. Ehe er sprach, bemühte er sich sichtlich, den tückischen Strudel, der ihn nach unten zog, zum Stillstand zu bringen.
»Natürlich . . . deine Lektion«, seufzte er. »Ich hatte es dir ja versprochen, nicht? Also komm, du darfst heute das Stück selbst auswählen, als Belohnung für deinen geduldigen Gehorsam in den letzten Tagen.«
Ich wählte das Duett aus Othello . Er sollte sich seine Wut aus dem Leib singen und sich von den finsteren Gefühlen befreien, die in ihm tobten. Erst wenn er den wilden Zorn losgeworden war, würde es ungefährlich sein, die weichen bretonischen Melodien zu singen, die seinen Frieden vielleicht wieder herstellten.
Unsere Stimmen trafen sich in einem wilden, elementaren Zusammenprall, schwangen sich auf und nieder, und schließlich verfielen wir in die verblüffte Stille, die auf eine wirklich einzigartige Leistung folgt. Doch so sehr mein Erfolg mich benommen machte, ich war völlig unvorbereitet auf den seltenen und erstaunlichen Tribut, den er mir zollte, als er aufblickte.
»Du würdest jetzt auf jeder Bühne der Welt Triumphe feiern, meine Liebe. Ich frage mich, ob du weißt, welches Glück deine Stimme mir in diesen letzten sechs Monaten geschenkt hat, wie stolz ich auf deine bemerkenswerte Leistung bin.«
Ich neigte den Kopf, um meine Gefühle zu verbergen. Zu viel, dieses Lob! Es nahm
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