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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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Kerze, die ich angezündet hatte, konnte die Düsternis am Ufer kaum durchdringen. Niemand wartete auf mich; keine Laterne kam schaukelnd über den See.
»Erik?«
Meine Stimme hallte in der Schwärze wider und klang in der gewölbten Höhle unnatürlich laut. Als keine Antwort erfolgte, wurde ich von Angst erfaßt, der heftigen, ungläubigen Angst eines Kindes, das man im Dunkeln allein gelassen hat.
»Erik! Bist du da?«
Die Stille spottete meiner, belauerte mich vor der bleiernen Wasserfläche. Die Kerze flackerte und erlosch, und ich zitterte vor Angst, Enttäuschung und wachsender Panik.
»Erik, wo bist du?« schrie ich. »Erik!«
»Pssst . . . hier bin ich.«
Seine Hand legte sich leicht auf meine Schulter, und mein Atem stockte, als er mich langsam umdrehte und ich ihn sah. Das gelbe Licht seiner Laterne zeigte mir seine mächtige, schattenhafte Gestalt, eingehüllt in den vertrauten weiten Umhang, und ließ die Maske und die Rüschen an seinem Hemd weiß leuchten. Die Dunkelheit umrahmte ihn prachtvoll und zeigte nur das, was er mir zeigen wollte. Hätte ich in diesem Augenblick vor Erleichterung aufgeschluchzt, so hätte er mich wohl in seine Arme genommen. Doch obwohl Tränen in meinen Augen standen, war ich plötzlich wütend über diese willentliche Täuschung.
»Du warst die ganze Zeit hier, nicht? Warum hast du mir nicht geantwortet?«
Er seufzte, trat einen Schritt zurück, und damit war der imposante Eindruck verflogen.
»Ein kleines wissenschaftliches Experiment, Kind, eine Untersuchung jener menschlichen Verhaltensweise, die als Neugier bekannt ist.«
»Ein sehr grausames Experiment, meinst du nicht?« erwiderte ich bitter.
»Die Wissenschaft ist nie so grausam wie die Liebe«, sagte er schlicht. »Komm jetzt mit mir. Das Boot liegt in der Nähe.«
Im Haus am See war es sehr warm. Der Temperaturwechsel ließ mich husten, und Erik wandte sich mir sofort mit einer angespannten Besorgnis zu, die mich hätte warnen sollen.
»Was ist mit deinem Hals?« fragte er fürsorglich.
»Nur eine Erkältung«, beruhigte ich ihn hastig. »Das Singen fiel mir trotzdem nicht schwer, und niemand hat gemerkt, daß etwas nicht stimmte. Die Zuschauer haben stehend applaudiert. Ach, ich wünschte, du wärest da gewesen und hättest es hören können.«
»Glaubst du, es hätte mir Freude gemacht, mit anzuhören, wie du deine Stimme ruinierst?« fragte er düster.
»Erik, ich hätte mich doch nicht weigern können, weiterzusingen.«
In unbeherrschter Wut schlug er mit der Faust auf die Tastatur des Klaviers.
»Wie kannst du es wagen, trotz meiner Anweisungen aufzutreten! Du eitles, dummes Kind, hast du denn nichts gelernt?« Ich schlich zum Sofa und sank verängstigt zusammen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich, »ich dachte, dieses eine Mal würde es nichts ausmachen.«
»Du hast keine Disziplin!« sagte er wütend. »Keine Selbstbeherrschung! Ich nehme an, der Vicomte de Chagny war heute abend in der Vorstellung. Wahrscheinlich hat er dir Blumen in die Garderobe geschickt und dich zum Souper eingeladen. Du hast heute abend gesungen, um ihm zu gefallen, nicht mir. Um dieses verdammten Jungen willen warst du bereit, deine Stimmlage, Flexibilität und dein hohes Pianissimo aufs Spiel zu setzen?«
Ich vergrub mich in die Kissen des Sofas in dem vergeblichen Versuch, vor seiner Wut zu fliehen. Das war nicht die alte, kontrollierte Wut, die er bei dem Vorfall mit der Spinne gezeigt hatte, sondern ein irrationales, aggressives Rasen, das durch ein einziges falsches Wort in Gewalttätigkeit ausarten konnte. Ich war so sicher gewesen, daß er mich niemals verletzen würde, aber nun, als ich die zu Fäusten geballten Hände auf dem Klavier sah, fiel mir wieder ein, wie sie sich einmal mit mörderischem Griff um meinen Hals gelegt hatten.
Tränen liefen mir über die Wangen, als ich mit gebeugtem Kopf einen Regen von Flüchen über mich ergehen ließ, ohne mit einem Wort zu widersprechen. Ich wagte nicht einmal, mich zu rühren.
Endlich verstummte er. Die Wut war verraucht, und er schaute plötzlich mit Reue und Zärtlichkeit auf mich herab.
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich vergesse, wie jung du bist, wie empfänglich für die Versuchungen, die dich umgeben. Aber du darfst nicht meinen kostbarsten Besitz mißbrauchen und erwarten, daß ich dich dafür lobe. Nein, bitte, trockne deine Tränen und schneuze dir die Nase, meine Liebe. Du weißt, ich kann es nicht ertragen, dich weinen zu sehen.«
»Ich kann«, stammelte ich,

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