Kay Susan
sondern der Schüler. Denn ihre Arme lagen um meinen Hals, ihre liebkosenden Hände drückten meinen Kopf mit unglaublicher Kraft in ihre Umarmung.
Als ihre Lippen sich über meinen schlossen, schmeckte ich das Salz der Tränen, aber ich konnte nicht unterscheiden, ob es meine oder ihre Tränen waren.
Tiefer und tiefer ließ sie sich in diese Umarmung gleiten, sprengte die Krusten des Hasses, die mich so lange aufrecht gehalten hatten, und ließ mich hilflos staunend dastehen, während ihre Hände wieder mein Gesicht suchten und es an ihres zogen.
Lange hielt sie mich so, als könne sie es nicht ertragen, mich loszulassen. Als wir uns endlich voneinander lösten, starrten wir einander in schweigender Ehrfurcht an, benommen von der Intensität dessen, was wir miteinander erlebt hatten.
Dann war plötzlich alles vorbei. Dieser Kuß beendete alles.
In dem Augenblick, in dem ich wußte, daß sie mein war – wahrhaft mein –, wußte ich, daß ich diesen unglücklichen Jungen nicht töten konnte.
RAOUL
1897
1. Kapitel
Ich hatte keine Schwierigkeiten, als ich zur Abendvorstellung die Loge Fünf betrat. Niemand blickte entsetzt auf, niemand hielt sich die Hand vor den Mund, niemand rannte davon, um der Direktion meine Anmaßung zu melden. In den siebzehn Jahren, seit ich zuletzt in diesem Theater war, sind Mitglieder des Personals gestorben, fortgezogen und ersetzt worden. Niemand erinnert sich heute noch an das Phantom der Oper, außer als vage Legende, und ich glaube, daß sich auch niemand an mich erinnert. Ich bin dieses Jahr achtunddreißig geworden, aber wenn ich aufrichtig zu mir bin, muß ich zugeben, daß ich mindestens zehn Jahre älter aussehe. Kummer und Bitterkeit haben mich so altern lassen, daß niemand in Paris mich heute noch als den Vicomte de Chagny erkennen würde. Nicht, daß mir das etwas ausmachte. Ich bin gekommen, um mich zu erinnern und meinen Erinnerungen Tribut zu zollen.
Ich ziehe die Uhr aus der Tasche und runzle die Stirn, als die Minuten unentrinnbar der Öffnung des Vorhangs zuticken. Es sieht so aus, als würde Charles es nicht rechtzeitig zur Ouvertüre schaffen. Verdammtes Pech, daß unsere Kutsche diesen streunenden Hund überfuhr. Charles sprang natürlich sofort aus dem Wagen und hob die arme Kreatur aus dem Rinnstein, ohne sich darum zu kümmern, daß sein Abendanzug mit Kot und Blut beschmutzt wurde. Er bestand darauf, daß wir sofort einen Tierarzt suchten, kein leichtes Unterfangen an einem Freitagabend in Paris.
»Schau, Papa, du fährst ohne mich weiter ins Restaurant. Ich kümmere mich um das hier und treffe dich später in der Oper.«
»Charles, darüber bin ich nicht sehr glücklich. Deine Mutter hätte mir nie verziehen, wenn sie hätte annehmen müssen, daß ich dich in der Dunkelheit allein durch Paris laufen lasse.«
Dieses Lächeln! Das ununterdrückbare, sonnige Lächeln, mit dem er meiner lästigen Autorität immer widerstanden hat, das Lächeln, das es unmöglich macht, gegen seine ruhige Entschlossenheit zu protestieren.
»Papa! Ich bin sechzehn und spreche Französisch so gut wie du. Ich habe Mutter versprochen, mich um dich zu kümmern, dafür zu sorgen, daß du ißt. Sei also jetzt brav und geh zum Essen. Ich treffe dich später.«
Es ist ganz unmöglich, mit Charles zu argumentieren, wenn er sich zu etwas entschlossen hat. Seit Christines Tod organisiert er alles für mich und sorgt für einen Wirbelwind von Aktivitäten, damit ich nicht ins Grübeln verfalle. Ich habe nicht die Kraft und den Mut gehabt, seinen gutgemeinten Bemühungen zu widerstehen. Es war seine Idee, zu diesem Besuch nach Frankreich zurückzukommen, diese Pilgerreise in die Oper zu unternehmen und den berühmten hufeisenförmigen Zuschauerraum wiederzusehen, in dem Christine ihren großen Triumph erlebte.
Doch es war meine Idee, Loge Fünf zu reservieren. Und noch jetzt weiß ich nicht genau, welcher Anflug von Perversität mich an einen Ort zurückgebracht hat, der einst Eriks Domäne war. Nichts unterscheidet diese Loge von den anderen im gleichen Rang: der gleiche Teppich, die gleichen Sessel, die gleichen roten Portieren und die gleiche rote Samtbrüstung. Und doch bilde ich mir gern ein, daß sie eine einzigartige Atmosphäre hat, eine Aura von verdrängten Erinnerungen. Ich stelle mir gern vor, er würde mich hören, wenn ich spräche. Merkwürdig, seit Christine starb, habe ich oft ein starkes Bedürfnis empfunden, mit Erik zu sprechen. Es ist, als glaubte ich, er habe das Recht
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