Kay Susan
Daroga . . . Sie sind heute abend uneingeladen in mein privates Theater gekommen, doch ich lasse das auf sich beruhen, ich bin nicht der Mann, der auf übertriebener Förmlichkeit besteht. Ich möchte darauf hinweisen, daß alle Wertsachen, einschließlich Ihres Lebens, hier auf eigenes Risiko hinterlegt werden. Die Direktion kann nicht für irgendwelche Schäden haftbar gemacht werden, die während der Unterhaltung vielleicht entstehen. Ach, Monsieur, ich bitte Sie, öffnen Sie doch nicht den Mund wie ein lächerlicher Kabeljau. Ich bin sicher, Ihre leidenschaftlichen Bitten sind sehr bewegend, aber ich habe vorsichtshalber dafür gesorgt, daß sie auf dieser Seite der Wand nicht zu hören sind. Daroga, ein Wort zu Ihnen, wenn Sie gestatten. Treten Sie von dem jungen Mann zurück, jetzt gleich, und gehen Sie zu dem Spiegel, der Ihnen am nächsten ist. Ja, so ist es besser. Sie haben gelernt, nicht wahr, daß es immer am besten ist, möglichst schnell dem zu folgen, was ich anordne. Verzeihung, ich scheine Sie verblüfft zu haben. Sie haben diesen speziellen kleinen Trick noch nie gesehen, nicht wahr? Ich muß gestehen, daß die Idee von der Khanum stammt. Eine Frau, die sich so leicht langweilte und so unersättlich nach Neuheiten verlangte. Sie dachte, es wäre amüsant, zwei Opfer innerhalb derselben Illusion voneinander zu trennen, damit das eine zuerst sterben kann und das andere das Schicksal beobachtet, das ihm bevorsteht. Sie werden feststellen, daß der Käfig völlig hitzebeständig ist und Ihnen ermöglicht, die Unterhaltung ohne die geringsten Unannehmlichkeiten zu beobachten. Wenn sie vorbei ist, können Sie tun, was immer Sie wollen. Wie ich sehe, haben Sie eine Pistole mitgebracht. Ich hoffe, Sie werden vernünftig genug sein, sie zu benutzen, wenn die Zeit kommt, statt nach der Polizei zu schicken. Das würde uns allen viele Schwierigkeiten ersparen, nicht wahr? Doch vorerst wollen wir uns auf die Zerstreuung konzentrieren, die bevorsteht. Ich bin sicher, der junge Mann wird sich als faszinierendes Studienobjekt erweisen. Und jetzt, Monsieur de Chagny, Raoul . . . Sie haben doch nichts dagegen, daß ich Sie Raoul nenne, oder? Ich bin sicher, Sie werden mich nicht enttäuschen. Nein, natürlich werden Sie das nicht, ich bin sicher, daß Sie in Schönheit sterben werden. Sie haben das Aussehen, das einen geschmackvollen Tod verspricht. Ich frage mich, ob Sie noch immer so gut aussehen werden, wenn Sie sich an diesem Baum in der Ecke erhängt haben. Lächerlicher Vorschlag, nicht wahr? Sie können sich nicht vorstellen, daß Sie das tun werden, aber Sie werden überrascht sein, welchen Unterschied ein paar Stunden bei hoher Temperatur bewirken. Übrigens, vielleicht interessiert es Sie, daß ich Ihre kleine Braut hier bei mir habe. Sie sieht zu. Sprich mit ihm, Christine, mach dem jungen Mann ein wenig Mut. Oh, meine Liebe, du mußt wirklich lauter weinen, sonst kann er dich nicht hören. Und du hast eine so besondere Begabung für Tränen, es wäre wirklich ein Jammer, sie zu verschwenden.«
Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich schwer atmend. Ich begann, mich sehr merkwürdig zu fühlen, als sei ich und nicht Chagny derjenige, der viele Stunden in diesem Ofen der Illusionen eingesperrt war und nun zu halluzinieren begann.
»Laß ihn gehen, Erik, bitte!«
Als ich die Augen öffnete, kniete Christine zu meinen Füßen. War ich für einen Augenblick eingeschlafen, daß ich Ihr Aufstehen von der Couch nicht bemerkt hatte?
»Ich werde dich heiraten«, fuhr sie in fieberhafter Hast fort, als ich schwieg und nicht reagierte. »Erik, wenn du ihn gehen läßt, schwöre ich, dich zu heiraten, in jeder Kirche Frankreichs.«
Ich begann, leise zu lachen.
»Oh, ich verstehe. Du hast dich entschlossen, die Märtyrerin zu spielen. Und er wird das akzeptieren, nicht wahr, dein netter junger Mann. Er wird herkommen, mir die Hand schütteln und sagen: ›Herzlichen Glückwunsch, Erik, der Beste hat gewonnen.‹ Oh, nein, meine Liebe, ich glaube wohl nicht, daß das ausreichen wird. Selbst eine Oper braucht eine überzeugendere Handlung.«
»Wir gehen fort«, sagte sie drängend. »Schalte nur alles ab, und ich gehe mit dir fort. Du brauchst sie nicht jetzt gleich freizulassen. Um sie zu befreien, genügt ein Brief an die Direktion.«
»Das hast du dir wirklich sehr sorgfältig ausgedacht«, sagte ich bitter. »Ich glaube wahrhaftig, du wärest bereit, diese schreckliche Farce zu Ende zu spielen. Hören Sie zu
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