Kay Susan
zu wissen, wie alles endete.
Eine Hand berührte meine Schulter.
»Hallo, Papa! Ich hab’s gerade noch rechtzeitig geschafft.«
Ich drehe mich um und schaue zu ihm auf, und der Anblick des schönen Jungen, der weder mir noch Christine ähnlich sieht, preßt mir das Herz zusammen. Wenn ich je meine eigenen Befürchtungen bezweifelt habe, wenn ich je versucht habe, mir selbst einzureden, ich irrte mich, dann kann ich das heute abend nicht mehr. Ich kann mich nicht länger zum Narren machen. Mit jedem Jahr, das vergeht, werden seine Züge dem Porträt ähnlicher, das ich sicher in einer privaten Schublade verschlossen habe. Selbst Christine wußte niemals, daß es in meinem Besitz ist. Ich habe es ihr nie gezeigt. Wir hüteten unsere Geheimnisse voreinander bis ganz zum Schluß.
Charles gleitet mit der gelassenen Anmut, die ihn von anderen Jungen seines Alters so unterscheidet, in den Sessel neben mir. Dann wendet er sich mir zu und lächelt mich ermunternd an.
»Ich weiß, das wird nicht leicht für dich sein, Papa, aber hinterher wirst du froh sein, daß du hergekommen bist und den Geist besiegt hast.«
Mein Gott! Manchmal könnte ich schwören, daß dieser Junge übersinnliche Kräfte hat. Manchmal kann er einen wunden Nerv mit heilenden Fingern berühren. Aber er denkt natürlich nur an Christine. Er kann sich unmöglich vorstellen, welche Fülle widerstreitender Gefühle heute nacht mein müdes Herz bewegt.
Die Lichter im großen Zuschauersaal werden dunkel, und Charles nimmt sein Opernglas aus dem Futteral und beugt sich in gespannter Erwartung in seinem Sessel vor. In ein paar Minuten wird er ganz in die Musik versunken sein, mich vergessen, seine tote Mutter vergessen, alles vergessen bis auf sein Bedürfnis, mit einer Kraft zu kommunizieren, die immer mein Begriffsvermögen überstieg. Musik ist in seiner Seele, durchzieht jede Faser seines Seins, und in England rühmt man ihr, bereits als den hervorragendsten jungen Konzertpianisten dieses Jahrhunderts. Frauen kommen scharenweise zu seinen Konzerten und bringen ihn hinterher mit ihren übertriebenen Ovationen und der Bewunderung für sein gutes Aussehen in Verlegenheit.
»Als ob es eine Rolle spielte, wie ich aussehe!« platzte er einmal empört heraus. »Das sollte doch nichts damit zu tun haben, nicht wahr, Papa? Warum können sie nicht einfach der Musik lauschen, ohne wegen meines Gesichts Kuhaugen zu machen?«
Ja, mit dreizehn Jahren betrachtete Charles es als absolute Zumutung, wie ein junger Gott auszusehen.
»Du glaubst doch nicht, daß sie nur kommen, um mich anzusehen?« fragte er entsetzt. Seltsam, wie er immer darauf bestand, mit all seinen Ängsten zu mir zu kommen, immer zu mir statt zu Christine, selbst als er noch sehr klein war und ich nicht das geringste tat, um sein Vertrauen zu erlangen.
Da ich jetzt sehe, daß er ganz in die Musik vertieft ist, lege ich mein Opernglas beiseite und lehne mich mit geschlossenen Augen zurück.
Ich habe kein wirkliches Interesse an Carmen, verstehst du?
Vor dem dunklen Hintergrund meiner Lider habe ich schon begonnen, eine persönlichere Oper zu durchleben, die, in der ich einst unwillentlich eine Hauptrolle spielte.
Vor siebzehn Jahren, in der auf keinem Plan verzeichneten Unterwelt dieses Theaters . . .
Die Hitze in der verspiegelten Kammer hatte sehr schnell ein fast unerträgliches Maß erreicht. Ich schleuderte meine Jacke fort und riß den Halsausschnitt meines Frackhemdes auf, während ich in hilfloser Qual dem Gespräch im Nebenraum zuhörte. Binnen Minuten war ich schweißüberströmt, das steife Hemd war durchweicht, und ständig rannen mir salzige Tropfen in die Augen.
In ohnmächtiger Wut hämmerte ich gegen das dicke Glas, aber es widerstand dem Aufprall meiner nackten Fäuste, und nach einer Weile gab ich auf, wild fluchend und nach Luft ringend. Die Luft schien sehr dünn geworden zu sein. Ich konnte nicht genug davon in meine mühsam arbeitenden Lungen saugen, und schon hatte ich ein Gefühl von Schwindel und Verwirrung. Ich warf mich auf den Boden, wo es sich etwas kühler anfühlte, und strengte mich an, um mich auf die schreckliche Szene zu konzentrieren, die jenseits der Wände meines Gefängnisses eskalierte.
Erik sprach zuerst mit eisigem, kontrolliertem Sarkasmus, aber als ich genau zuhörte, entdeckte ich zunehmende Zeichen von Wahnsinn in seinen Worten und erkannte mit Entsetzen, daß der Mann nun völlig von Sinnen war. Panik ergriff mich, als ich hörte, wie Christine ihn
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