Kay Susan
mich niemand sehen konnte, riß ich die Maske ab und warf sie nach dem zunehmenden Mond, der bleich und gleichgültig meinen wilden Kummer beschien. Dann setzte ich mich auf die staubige Straße und untersuchte das Fläschchen, das ich aus dem Zelt der alten Kräuterfrau gestohlen hatte.
Ich nahm den kleinen Glasstöpsel ab, atmete das bittere Aroma ein, das aus der Flasche aufstieg, und zögerte. Der magische Talisman des Todes war in meiner Hand, und das einzige, was mich daran hinderte, ihn zu benutzen, um diesem Abgrund von Verzweiflung zu entkommen, war das plötzliche Auftauchen einer Erinnerung, die ich schon lange vergessen zu haben glaubte.
Vater Mansarts Predigt über die Todsünden Mord und Selbstmord hatten mich in einem Alter beeindruckt, in dem die meisten Kinder sich noch abmühen, das Vaterunser zu erlernen. Mord und Selbstmord, hatte er mir grimmig gesagt, seien in den Augen des Herrn gleichermaßen verbrecherisch und brächten unweigerlich ewige Verdammnis über den Täter. Der Selbstmörder liege in einem ungeweihten Grab, und die Pforten des Himmels seien ihm für immer verschlossen.
» Niemals kommt es uns zu, Leben zu nehmen, Erik. Wenn du auch sonst nichts von dem behältst, was ich dich gelehrt habe, das eine mußt du behalten.«
Jetzt erinnerte ich mich und starrte entsetzt auf das Gift in meiner Hand. Angenommen, es stimmte, daß ich durch diese Tat die Tür eines Leidens schloß, nur um in ein anderes, unendlich viel schlimmeres einzutreten?
Entsetzt über diese Möglichkeit, schleuderte ich die kleine Flasche zu Boden und sah, wie die trockene Erde die heraustropfende Flüssigkeit verschluckte. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überfiel mich in dem Moment, als ich mich bückte, um meine Maske wieder aufzuheben. Doch ehe ich sie anlegen konnte, erschrak ich über einen Schrei in der Dunkelheit hinter mir.
Ich hielt inne und lauschte aufmerksam. Wieder kam die Stimme aus der Finsternis, diesmal als leises Schmerzensstöhnen. Instinktiv bewegte ich mich in Richtung auf das Geräusch und erstieg eine felsige Anhöhe, sicheren Schrittes und ohne Angst dank meiner Katzenaugen und meiner besonderen Beweglichkeit, die meine Mutter einst veranlaßt hatte, mich mit einem Affen zu vergleichen.
Auf der anderen Seite der Felsen zeigte mir mattes Laternenlicht ein zusammengesunkenes Häufchen aus buntfarbigen Röcken und ein hübsches Gesicht, das mir vom Lagerfeuer vertraut war.
»Dunica?« flüsterte ich.
Sie sah zu mir hoch und schrie mit schriller Stimme auf. Einen
Augenblick lang hatte ich vergessen, daß ich keine Maske trug. Ihre Schreie zerrten an allen Nerven meines Körpers, und plötz
lich überkam mich blinde Wut.
»Hör auf!« rief ich und schüttelte sie heftig an den mageren
Schultern. »Hör mit dem Geschrei auf, oder ich tue dir all das an,
was du befürchtest.«
Das brachte sie zum Schweigen. Mit einer Art ächzendem
Schluchzen verschluckte sie ihre Schreie und duckte sich unter meinem Griff wie ein erschrockenes Kaninchen in den Fängen eines
wilden Hundes.
Langsam ließ ich sie los und fragte:
»Wo bist du verletzt?«
Sie zitterte heftig, ihre Zähne klapperten vor Angst, aber es gelang ihr, auf ihren linken Fuß zu zeigen. Ich sah, daß er in einem
unnatürlichen Winkel verdreht war.
»Soll ich ihn mir ansehen?« sagte ich.
Sie war zu ängstlich, um abzulehnen. Ich trug noch immer den
langen Mantel des Zauberers, in den ich mich für die Vorstellungen
hüllte. Ich streifte ihn ab, riß vom Saum einen Streifen herunter
und legte den Rest des Umhangs um ihre Schultern, denn es war
bitterkalt unter dem klaren Aprilhimmel, und ihre Haut war kühl
und feucht von dem Schock. Ich spürte den gebrochenen Knochen
in ihrem Fußknöchel bei der ersten Berührung und legte das Gelenk
still, so gut ich konnte.
Sie wurde ohnmächtig, als ich sie berührte. Ob das vor Schmerz
oder aus schierem Entsetzen geschah, vermag ich nicht zu sagen.
Ich war nicht übermäßig betroffen oder überrascht, und im übrigen
wurde meine Aufgabe dadurch sehr erleichtert.
Als ich fertig war, setzte ich mich auf einen nahen Felsblock und
wartete darauf, daß sie wieder zu sich kam. Das Licht der Laterne neben ihr zeichnete die Kurve ihrer Brust nach, und mir kam
ein Gedanke, den ich hastig und angewidert von mir schob. Ich
berührte sie nicht; nach einer Weile verebbte das dringende Verlangen nach dieser Berührung, und ich war wieder ruhig und hatte
meinen Körper vollkommen unter Kontrolle. Diese
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