Kay Susan
ich Geschmack daran und betrachtete sie als sehr befriedigenden Ersatz für Glück – und für Liebe. Inzwischen hatten alle Angst vor mir. Alle bis auf Javert. Ich mochte zwar eine Legende sein, aber ich war noch immer sein Geschöpf.
Das ließ er mich keinen Augenblick vergessen.
5. Kapitel
Javert war kein echter Zigeuner, nicht einmal ein Halbblut. Er war ein chorody, ein Wanderer, der nur wegen seiner Fertigkeiten als Schausteller akzeptiert wurde. Ich begriff bald, daß er zwar mit den Zigeunern herumzog, aber ebensowenig zu ihrer versippten Gemeinschaft gehörte wie ich.
An irgendeinem Punkt seiner Vergangenheit hatte er so etwas wie eine Erziehung genossen. Im Unterschied zum Rest der Gruppe konnte er lesen, und von Zeit zu Zeit tauchten aus den Abgründen seiner Vulgarität unerklärliche Überreste von Kultur auf. Es war Javert, der mir die Legende von Don Juan erzählte und den Namen des großen Liebhabers in seine Sammlung von Spitznamen aufnahm, mit denen er mich bedachte. Zuerst war das nur eine weitere Beleidigung, nicht kränkender als alles andere; doch als ich älter wurde und die Bedeutung hinter diesem Spott besser verstand, begann ich den Namen Don Juan mehr zu hassen als alle anderen.
Javert war immer hinter Frauen her, doch keine kam jemals zu ihm in sein Zelt. Da er keines Mannes Blutsbruder war, gab es keinen Vater im Lager, der von ihm einen Brautpreis angenommen hätte. In meiner unschuldigen Ignoranz nahm ich einfach an, das sei der Grund, warum er keine Frau hatte.
Eines Abends kam er ohne Vorwarnung in mein Zelt, wie es seine Art war, beugte sich über mich und blies mir scheußliche Schnapsdünste ins Gesicht. Ich sah sofort, daß er betrunken war – und wenn er betrunken war, war er gefährlich. Ich wußte, daß ich auf der Hut sein mußte.
»Arbeiten, immer arbeiten«, bemerkte er unwillig und stieß mit einem fetten Finger nach der neuen mechanischen Erfindung, die vor mir lag. »Was bist du doch für ein fleißiger kleiner Leichnam!« Als eine verborgene Feder einschnappte und seinen Finger umschloß, schrie er:
»Verdammt! Das hast du gemacht!«
»Nein, habe ich nicht«, gab ich entrüstet zurück, denn diesmal sagte ich die Wahrheit. »Es war ein Zufall.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, schnaubte er. »Du bist sehr geschickt im Arrangieren von Zufällen. Ich habe schon bemerkt, wie viele kleine Mißgeschicke mir zustoßen, wenn du in der Nähe bist.«
Ich schwieg und überlegte besorgt, ob er wirklich erraten hatte, für welche »Mißgeschicke« ich tatsächlich verantwortlich war. Da war beispielsweise sein Sturz vom Pferd . . . und das unerklärliche Zusammenbrechen seines Zeltes. Alberne, ärgerliche, alltägliche Zwischenfälle, von denen ich angenommen hatte, er könne sie nicht mit mir in Verbindung bringen.
Ich schaute ihm ins Gesicht, erkannte erschrocken, daß er alles wußte, und wartete auf meine Bestrafung.
Ich brauchte nicht lange zu warten.
Abrupt riß er mir die Maske vom Gesicht, schnitt sie mit seinem von allen gefürchteten Messer in Stücke und warf mit den Stücken nach mir. Dann starrte er mich an.
»Keine Tränen?« Er runzelte die Stirn. »Du enttäuschst mich, kleiner Leichnam. Und du weißt inzwischen genau, daß man den alten Javert besser nicht enttäuscht.«
Er streckte den Arm aus und schlug mir mehrmals mit dem Rücken seiner riesigen Hand ins Gesicht, aber ich blieb still und starrte ihn mit trockenen Augen verächtlich an. Da ihm jetzt einfiel, daß ich am gleichen Abend auftreten sollte, gab er seinen Versuch auf, mich zum Weinen zu bringen.
»Endlich ein Mann«, sagte er doppelzüngig, »und kein plärrendes Balg mehr! Als nächstes verlangst du wahrscheinlich Lohn für deine Auftritte.«
Ich hielt es für ungefährlicher zu schweigen; denn ich hatte gelernt, diesen Momenten scheinbarer Großzügigkeit zu mißtrauen – gewöhnlich folgten darauf neue Gewalt oder Demütigungen.
»Wie alt bist du?« fragte er überraschend.
»Ich weiß nicht.« Ich blickte weiter zu Boden.
»Das weißt du nicht?« Er kicherte plötzlich. »Du mußt doch einen Geburtstag haben wie alle anderen! Oder bist du gar nicht geboren worden? Vielleicht bist du einfach aus einem Ei geschlüpft wie eine Eidechse.«
In meiner Erinnerung zerschellte ein Spiegel, und ich erschauerte.
»Ich weiß nicht«, wiederholte ich zitternd. »Meine Mutter war . . . Darüber wurde nie geredet.«
Er wischte sich mit dem Hemdsärmel die Nase und zeigte grinsend eine gelbe,
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