Kay Susan
mich auf und beherrschte meine besinnungslose Panik. Nur keine plötzliche Bewegung, nichts, was ihn beunruhigen konnte. Ich sah, wie er sich bei diesem Beweis meiner Resignation sichtbar entspannte. Als er sich sorglos abwandte, um seine
Stiefel auszuziehen, schloß sich meine Hand um das Heft des Messers, das unter seinem abgelegten Gürtel hervorschaute. Ich wartete, bis er mir den Rücken zudrehte, dann stieß ich das
Messer tief in die wabernde Fleischmasse, die seine Eingeweide umgab. Ich war schockiert und fasziniert von der Lust, mit der ich das
Messer mühelos durch die Hautschichten gleiten und bis zum Heft
versinken fühlte – schockiert, weil ich diese ungewöhnliche Empfindung genau da verspürte, wo seine schamlose Hand mich berührt
hatte.
Ich sah, wie Javert ungläubig die Augen aufriß, wie er lautlos den
Mund aufsperrte und zitternd keuchte, wie seine Hände hilflos die
Wunde umklammerten, aus der das Blut hervorschoß, als ich ruhig
das Messer herauszog. Es war, als hätte ich einen Weinschlauch angestochen. Ich hatte Zeit, mich über diese eigenartige Vorstellung
zu wundern . . . Ich schien alle Zeit der Welt zu haben. Er stand wieder auf den Füßen und schleppte sich dem Zelteingang zu, als ich das Messer von hinten zwischen seine Rippen stach;
diesmal stieß es auf Knochen. Er fuhr herum, seine Hände schlossen sich über meinen, als ich die Klinge herausriß, aber seine Kraft
schwand schnell, und er konnte mich nicht halten. Ich befreite meine Arme mit einem Schwung und stieß zum letzten Mal mit dem
Messer zu; ich stach mitten in die schwitzende Vertiefung an seinem
Hals.
Er stürzte wie ein Stein zu meinen Füßen nieder. Ich starrte in
keuchender Ekstase auf den blutenden Leib und sah ohne eine Spur von Reue oder Abscheu zu, wie er zuckend starb. Es war so einfach und so unglaublich befriedigend gewesen, daß ich kaum an mein Glück zu glauben vermochte. Noch vor fünf Minuten war ich ein unschuldiges, angstvolles Kind gewesen; nun war ich ein Mann,
auf dessen Konto die Tötung eines viel Stärkeren kam. Ich fühlte mich berauscht vor Macht, als ich das Messer an Javerts Hemd abwischte und in den Beutel steckte, der noch immer
auf meinem Strohsack lag. Ruhig und ohne Eile nahm ich den Beutel auf und ging in Javerts Zelt, wo ich sogleich die Ledertasche
fand, in der er den Gewinn aus meinen Vorstellungen aufbewahrte.
Ich durchquerte das Lager ohne Eile oder Angst und band ruhig
mein zwischen den anderen angepflocktes Lieblingspferd los. Ich
hatte keine Angst mehr vor Entdeckung. Kein Mann würde mehr
Hand an mich legen und lange genug leben, um damit prahlen zu
können. Ich ging jetzt fort, weil ich mich dafür entschieden hatte;
und ich ging nicht aus Angst um meine eigene Sicherheit, sondern
voller Verachtung für meine vergangene Schwäche, mein kindliches
Entsetzen und meine rückgratlose Verzweiflung.
Ich war über die Grenzen dieses unbedeutenden Stammes umherziehender Nomaden hinausgewachsen; ich brauchte den zweifelhaften Schutz eines satanischen Bösewichts nicht mehr. Meine
Kindheit war zu Ende, und die Welt rief nach meinen einzigartigen
Talenten. Ich hatte gerade erst angefangen, das riesige Reich meines
Geistes zu erforschen, und jetzt dehnten sich seine weiten Grenzen
wie ein ferner Horizont vor mir aus. Ich wollte alles Wissen der
Welt in mich aufnehmen und alle Künste beherrschen, wie es die
Menschheit noch nicht gesehen hatte.
Wie Adam hatte ich vom Baum der Erkenntnis gegessen. Die Ketten des Gewissens, mit denen ein Gemeindepfarrer mich zu fesseln
versucht hatte, waren unwiederbringlich zerbrochen. Ich hatte die
Furcht vor dem Tod verloren und damit auch jeden Respekt vor
dem Leben anderer.
Der Tod war die einzige Macht und ich sein eifriger, bereitwilliger
Helfer.
GIOVANNI
1844–46
1. Kapitel
Ich komme jetzt oft, um allein auf der Dachterrasse zu sitzen. Wenn die Wärme der römischen Sonne mittags beginnt, den Geruch des Elends aus der Stadt aufsteigen zu lassen, ruhe ich mich gern auf der Travertinbank aus und atme den schweren Duft von Lucianas Topfpflanzen ein. Manchmal, wenn ich mich niederbeuge, um mit meinen von Arthritis gekrümmten und fast zur Unkenntlichkeit deformierten Fingern einen Zweig abzubrechen, erinnere ich mich an die liebevolle Pflege, die Erik diesen Blumen zuteil werden ließ; ich erinnere mich, wie zärtlich er die Verheerungen von Lucianas gedankenloser Vernachlässigung wieder gutzumachen suchte und wie er manchmal innehielt, um ein
Weitere Kostenlose Bücher