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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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lückenhafte Zahnreihe.
»Na ja, vermutlich gab es da nicht viel zu feiern. Es ist ein Wunder, daß dich keiner ins Feuer geworfen hat, bevor du auch nur plärren konntest. Aber ich würde sagen, daß du jetzt etwa elf oder zwölf sein mußt. Kommt dir das angemessen vor?«
Ich nickte behutsam und fragte mich, wohin diese seltsamen Fragen führen sollten.
»Nun ja«, fuhr er leutselig fort, »noch ein Jahr oder so, und wenn du weiterhin so viele Leute anlockst, stünde einem Lohn vielleicht nichts im Wege. Natürlich würde es davon abhängen, ob du weiterhin zu meiner Zufriedenheit arbeitest – auf der Bühne und auch sonst, wenn du verstehst, was ich meine. Ich mag Jungen, die es verstehen, ihre Dankbarkeit zu zeigen . . . sozusagen.«
Ich starrte ihn verständnislos an. »Ich verstehe nicht«, flüsterte ich.
»Keine Sorge, das kommt schon noch!« Er lachte und stupste spielerisch mein Ohr an. »Ja, du wirst schon verstehen, alles zu seiner Zeit. Du bist sehr schlau, das gebe ich zu, manchmal zu schlau, aber du weißt nicht alles. Es gibt noch ein oder zwei Dinge, die ich dir beibringen kann, wenn mir der Sinn danach steht. Und wenn du lernen willst, wenn du gefallen willst . . . Nun ja, dann stellst du vielleicht fest, daß ich sehr großzügig bin.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, aber sein Ton und sein ungewohnt sanftes, fast katzenhaftes Benehmen ließen mich vor Furcht frösteln.
Er saugte an seinem blutenden Finger, spie auf den Boden und schlenderte zum Zelteingang. Darunter drehte er sich nach mir um, und sein Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck.
»Ich hatte noch nie eine Leiche«, murmelte er.
Dann war er fort und ließ mich allein mit meiner Unwissenheit und meiner Angst.
    Irgendwann im folgenden Jahr überquerten wir die Grenze nach Spanien. Die jährliche Kirmes in Verdú war seit dem vierzehnten Jahrhundert ein traditioneller Treffpunkt der Zigeuner. Eine Atmosphäre gespannter Erwartung herrschte im Lager bei der Aussicht auf die Begegnung mit Blutsbrüdern aus vielen Ländern. Nachts saßen die Bewohner der Zelte und Wagen um das Lagerfeuer, die Geiger spielten eine lustige Melodie, und die Zigeunermädchen tanzten für ihre Männer, wirbelten umher im flackernden Licht, streiften lange Schärpen über nackte, sonnengebräunte Arme, anmutig . . . und sinnlich.
    Jeder Abend, an dem ich den Mädchen zusah, machte mir meine eigene Andersartigkeit schärfer und schmerzlicher bewußt, warf ein neues, kaltes Licht auf mein inneres Elend.
    Wenn ich nicht unter Zigeuner geraten wäre, hätte ich vielleicht nicht in so zartem Alter die Weiblichkeit kennengelernt; vielleicht hätte ich noch ein paar Jahre länger die geschlechtslose, jungenhafte Unschuld genossen. Zigeunerfrauen sind nicht leichtfertig und lasziv – Jungfrauen standen hoch im Kurs und wurden nur gegen einen hohen Brautpreis hergegeben. Doch die Liebe, sobald sie einmal durch die Ehe geheiligt war, war keine verschwiegene Angelegenheit; Paare umarmten sich offen am Lagerfeuer und zeigten ohne Scham ihre Freude am Körper des anderen. In diesem Frühling in Verdú kam es mir so vor, als paare sich die ganze Welt und teile ein universales Geheimnis, das mir immer verschlossen bleiben würde. Und plötzlich war es nicht mehr genug, der Teufelslehrling zu sein, der Star einer immer berühmteren Wandertruppe.
    Alles, was ich wollte, war, wie die anderen sein. Ich konnte mit Grausamkeit und Haß leben; was ich nicht mehr zu ertragen imstande war, das war das Glück der anderen, die plötzliche Erkenntnis, daß keines meiner Talente je bewirken würde, daß man mich als menschliches Wesen akzeptierte. Mein Zelt mochte jetzt bequem sein, ich mochte kommen und gehen können, wie es mir gefiel, aber in allen wesentlichen Belangen lebte ich noch immer in einem Käfig, umgeben von unsichtbaren Gitterstäben. Die Welt wollte nichts von mir außer der Befriedigung der Sinnesorgane von Sehen und Hören.
Ich war allein, und daran würde sich niemals etwas ändern. Vielleicht war es an der Zeit, diese Welt hinter mir zu lassen.
6. Kapitel
    Die Nacht war trocken und kalt, still bis auf den fernen Klang von Geigen und das sanfte Zirpen der Grillen im hohen Gras. Riesige Falter umschwirrten meine Laterne und prallten gegen meine Maske, als ich aus dem Lager floh, wo die Zigeuner immer wilder tanzten, der Alkohol reichlicher zu fließen begann und die Flammen des Lagerfeuers vor dem schwarzen spanischen Himmel züngelten.
    Als ich sicher war, daß

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