Kay Susan
versuchte ich so zu tun, als bemerke ich Erik nicht, der still die am Gitterwerk hochrankende Glyzinie beschnitt. Er ging nie mit mir zur Kirche, und ich widerstand energisch der Versuchung, ihn darum zu bitten. Falls er jemals zu Gott zurückfände, sollte das aus Liebe zu Gott geschehen und nicht aus Dankbarkeit mir gegenüber.
Es war Sonntag, ein guter Tag, um eine Entscheidung zu treffen und daran festzuhalten. Ich beschloß, ihm von Luciana zu erzählen, sobald ich von der Messe zurückkehrte. Doch gerade, als ich meine Handschuhe überstreifte, wurde auf der Straße das Geräusch von Kutschenrädern laut, und ich runzelte die Stirn. Ich erwartete keine Besucher . . .
Luciana! Sie flog in den Hof und in meine Arme wie ein kleiner Vogel, den man aus dem Käfig befreit hat. Ihr dichtes Haar wehte wie ein schwarzseidener Umhang hinter ihr her, und ihr apartes Gesicht war vor Erregung gerötet.
»Papa, Papa, ich bin zu Hause! Ich dachte, ich würde niemals ankommen, es war eine so schrecklich lange Reise, so heiß und ermüdend, Papa, was ist los? Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
»Luciana . . . « Ich hielt ihre kleine Gestalt ein wenig von mir ab, wie man es mit einem liebenswerten, aber allzu stürmischen jungen Hund tun würde. »Mein liebes Kind, was machst du hier? Ich habe dich erst in einer Woche erwartet?«
»Ach, ich weiß. Ist es nicht wundervoll? Schwester Agnes und Schwester Elisabeth haben das Fieber. Deswegen hat man uns früher in die Ferien geschickt.«
Hilflos küßte ich ihre Wange und drehte mich nach der hochgewachsenen Gestalt um, die hinter dem dichten Blattwerk verschwunden war. Der Augenblick der Erklärung ließ sich nicht länger aufschieben.
»Erik«, sagte ich ruhig; aber mit unverkennbar befehlendem Ton in der Stimme, »ich möchte, daß du meine jüngste Tochter Luciana kennenlernst.«
Für einige lange Sekunden rührte er sich nicht. Dann löste er sich widerstrebend aus dem Schatten und kam, in den Umhang gehüllt, den er sich hastig umgeworfen hatte, über den Hof. Er sah mich kurz und mit schmerzlicher Überraschung an, und ich hatte den unangenehmen Verdacht, daß sein Gesicht ebenso weiß geworden war wie die Maske, die es verbarg.
Luciana starrte ihn an, aber nicht, wie ich erwartet hatte, mit taktloser Neugier. Ihre Augen ruhten mit einer Art gebannter Faszination auf der Maske, und sie schien den Atem anzuhalten, als sie ihm die Hand reichte.
Erik verbeugte sich anmutig, aber seine Hand hielt unmittelbar vor ihren behandschuhten Fingern inne, und ich bemerkte, daß er sorgfältig darauf achtete, sie nicht zu berühren.
»Mademoiselle«, sagte er leise, »ich muß Sie um Verzeihung bitten für meine Anwesenheit in diesem Augenblick Ihrer Wiedersehensfreude. Monsieur . . . « Er wandte sich um und verbeugte sich auf dieselbe Weise vor mir, »wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen.«
Angesichts seiner eisigen Höflichkeit blieb mir nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken, so daß er ins Haus zurückkehren konnte, ohne uns noch einen Blick zuzuwerfen.
Als er fort war, umklammerte Luciana meinen Arm mit drängender und kaum verhüllter Erregung.
»O Papa!« stieß sie mit dem nur allzu vertrauten Klang unterdrückter Hysterie in der Stimme hervor, »wer ist das?«
Das friedliche Idyll von Lehrer und Schüler endete mit Lucianas Rückkehr, wie ich insgeheim befürchtet hatte. Sie erschien an unserem ruhigen, geordneten Firmament wie ein spektakulärer Komet, und das Band, das zwischen Erik und mir stetig gewachsen war, mußte unweigerlich darunter leiden. Er kam nicht mehr, um an meiner Tafel zu speisen, sondern zog es vor, in der Küche oder allein in seinem Zimmer zu essen. Auch abends erschien er nicht mehr, um an meinem Kamin zu sitzen.
Sein Verhalten bestätigte das tiefverwurzelte Unbehagen, das mich all diese Monate hatte schweigen lassen. Es war unvermeidlich, daß ein junger Mann, der die Schönheit in jeder Form so verehrte, von Lucianas herzerweichender Lieblichkeit berührt sein würde, und es überraschte mich nicht, daß seine Reaktion darin bestand, sich zu verkriechen wie ein verwundetes Tier. Ich hatte damit gerechnet, daß er in qualvoller Verwirrung aus einer Situation fliehen würde, die ihn all seiner natürlichen Abwehrkräfte zu berauben drohte.
Was ich nicht erwartet hatte, waren Lucianas Reaktionen auf seine Zurückhaltung, ihr innerer Kummer und das unerhört schlechte Benehmen, das seine kühle Korrektheit bei ihr
Weitere Kostenlose Bücher