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Kay Susan

Titel: Kay Susan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das Phantom
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konnte. Er ertrug es nicht, von unbelebten Gegenständen besiegt zu werden.
    Bald machten mir seine staunenswerten Fortschritte ein wenig angst. Ich war für ein Mädchen ungewöhnlich gebildet, Papa selbst hatte mir genügend Geometrie beigebracht, um die Wissenschaft zu begreifen, auf der alle Architektur beruht. Aber allmählich merkte ich, daß Erik mich bald überholen würde. Zahlen faszinierten ihn; und nach den Grundprinzipien, die ich ihn gelehrt hatte, stellte er Berechnungen an, denen ich nicht folgen konnte, so geduldig er sie mir auch erklärte. Er hatte die Architekturbibliothek meines Vaters entdeckt, verbrachte viele Stunden mit der Betrachtung der Zeichnungen und zeichnete unablässig auf alle Flächen, die er fand. Wenn ich ihn nicht ständig mit Papier versorgte, fand ich seine Zeichnungen auf den Deckblättern von Vaters Büchern, auf den Rückseiten seiner Pläne, sogar auf der Tapete.
    Als eine Stickschere aus meinem Handarbeitskorb verschwunden war, dachte ich mir nichts dabei, bis ich in die polierte Mahagoniplatte meines Eßtisches die liebevolle Zeichnung einer komplizierten Schloßanlage eingekratzt fand. Diese Schere richtete noch unglaublich viele geschmackvolle Schäden an. Obwohl ich das ganze Haus auf den Kopf stellte und Erik in meiner Wut erbarmungslos schlug, konnte ich niemals herausfinden, wo er sie versteckte.
    Doch es gab merkwürdige und unerklärliche Lücken in seinen Begabungen. Er schien unfähig, richtig von falsch zu unterscheiden, und obwohl er zeichnen konnte wie ein reifer Künstler, konnte – oder wollte – er nicht schreiben lernen. Wenn ich ihm eine Feder in die Hand gab und ihn anwies, Buchstaben zu kopieren, wurde er sofort verdrießlich und ging an diese einfache Aufgabe so ungelenk und dumm heran wie ein zurückgebliebenes Kind. Ich konnte ihn nicht einmal zum Schreiben prügeln, obwohl ich zu meiner Schande gestehen muß, daß ich es oft versuchte. Er hatte einen eisernen Willen, den ich nicht zu beugen vermochte. Erschöpfung und die Angst, ihn ernstlich zu verletzen, bewogen mich, das Schönschreiben als Strafe vorzubehalten, die ihm bei gutem Benehmen erlassen werden konnte.
    Die Musik schien die Hauptquelle seiner außergewöhnlichen Talente zu sein. Musik stieg aus seinem Inneren wie aus einem Brunnen auf. Buchstäblich jeden Gegenstand, der in seine erfinderischen Hände fiel, machte er zum Instrument. Er konnte nicht an einem Tisch sitzen, ohne unbewußt mit den Absätzen einen Rhythmus gegen die Stuhlbeine zu klopfen oder mit dem Messer auf seinem Teller einen Takt zu schlagen. Eine Ohrfeige ließ ihn vorübergehend innehalten, doch nach einer Minute begannen seine Augen wieder zu glänzen, wenn er in seine geheime innere Welt der Töne zurückglitt. So oft ich Opernarien sang, um mir die einsamen Stunden zu vertreiben, ließ er alles stehen und liegen, was er gerade tat, und verharrte in schweigendem Staunen. Kurz vor seinem fünften Geburtstag erlaubte ich ihm, mich am Klavier zu begleiten, und wenn mir ein schwieriger Ton nicht gelang, hörte er zu spielen auf, zeigte auf die Note und sang sie mir mit der verwirrenden Reinheit seiner makellosen, hellen Stimme fehlerlos vor.
    Doch immer, wenn er am Klavier saß und mit einer Geläufigkeit spielte, die seine Jahre weit übertraf, befürchtete ich, daß sein unglaublich fruchtbarer Geist währenddessen erschreckendes Unheil ausheckte, das ich mir nicht vorzustellen wagte.
4. Kapitel
»Wo gehst du hin, Mama?«
    Ich hörte auf, meinen Umhang zuzuhaken, drehte mich um und sah ihn in der Tür stehen.
»Du weißt genau, wohin ich jeden Sonntag gehe, Erik. Ich gehe mit Mademoiselle Perrault zur Messe, und du mußt hierbleiben, bis ich wiederkomme.«
Er umschlang mit den Fingern den Türknopf.
»Warum muß ich immer hierbleiben?« fragte er plötzlich. »Warum kann ich nicht mit dir kommen und die Orgel und den Chor hören?«
»Weil es nicht geht!« sagte ich scharf. Ich wünschte schon seit Tagen, Vater Mansart hätte Erik nie von der Orgel und dem Chor erzählt. »Du mußt hier im Haus bleiben, wo du in Sicherheit bist«, fügte ich hinzu.
»In Sicherheit vor was?« forderte er mich unerwartet heraus.
»In Sicherheit vor . . . vor . . . Ach, hör mit diesen albernen Fragen auf, ja? Tu, was ich dir gesagt habe, und bleib hier. Es wird nicht allzu lange dauern.«
Ich verließ mein Schlafzimmer, schob ihn mit der behandschuhten Hand vor mir her und schloß die Tür ab, wie ich es immer tat, wenn ich ihn

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