Kaylee
schon nicht mehr. Mit diesem einen Wort stellte er mein Leben komplett auf den Kopf und verwandelte meine Zukunft in ein einziges Chaos aus Unsicherheit und Ohnmacht. Wenn ich verrückt war, was sollte dann aus mir werden?
„Wann darf ich nach Hause?” Der dumpfe Druck in der Magengegend verstärkte sich, und ich hätte mich am liebsten zu Hause in mein Bett verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen. Und ganz, ganz lang geschlafen.
„Sobald wir eine genaue Diagnose haben und deine Medikamente richtig eingestellt sind.”
„Wie lange wird das dauern?”
„Mindestens zwei Wochen.”
Ich taumelte auf die Füße, halb ohnmächtig vor Verzweiflung. Wie würden meine Freunde reagieren, wenn sich das herumsprach? Würde ich in der Schule als die Irre abgestempelt werden? Die, über die man hinter vorgehaltener Hand redete? Durfte ich überhaupt je wieder in die Schule gehen?
Wenn ich tatsächlich verrückt war – spielte es dann überhaupt eine Rolle?
Die nächsten vier Tage in Lakeside gaben dem Begriff „sich zu Tode langweilen” eine ganz neue Bedeutung. Hätte Onkel Brendon mir nicht wenigstens eine Nachricht von Emma überbracht, hätte ich es womöglich nicht durchgestanden. Aber von ihr zu hören und zu wissen, dass sie mich nicht vergessen oder irgendwem erzählt hatte, wo ich war, gab meinem Leben außerhalb von Lakeside wieder einen Sinn. Es führte mir vor Augen, was wirklich wichtig war.
Em plante immer noch, Toby am kommenden Wochenende eine Klatsche zu verpassen. Und sie hoffte natürlich, dass ich rechtzeitig zurück sein würde, um es live mitzuerleben. Falls nicht, wollte sie seinen Untergang für mich filmen und bei YouTube einstellen.
Ich hatte mir ein neues Ziel gesetzt, und das lautete, alles zu tun und zu sagen, was nötig war, um hier rauszukommen. Um wieder in die Schule zu gehen und mein altes Leben zu leben.
Schwester Nancy stellte mir jeden Morgen dieselben zwei Fragen und notierte meine Antworten brav auf ihrem Notizblock. Auch Dr. Nelson empfing mich täglich für ein paar Minuten, schien sich aber um die Nebenwirkungen der Medikamente, die er mir verschrieben hatte, mehr zu sorgen, als darum, ob sie überhaupt anschlugen. Meiner Meinung nach war es reiner Zufall, dass weitere Schreianfälle bisher ausgeblieben waren. Das hatte nicht das Geringste mit den Tabletten zu tun.
Diese Tabletten …
Ich hatte gar nicht danach gefragt, was sie mir verabreichten, weil ich es nicht wissen wollte. Aber die Nebenwirkungen konnte ich nicht so leicht ignorieren. Ich war ständig müde und verbrachte die ersten zwei Tage fast nur im Bett.
Bei ihrem zweiten Besuch brachten Tante Val und Onkel Brendon mir zwei Paar Jeans und das Buch Schöne Neue Welt mit, das ich am nächsten Tag zwischen den zahllosen Nickerchen auslas. Am selben Abend bekam ich von Paul Block und Stift ausgehändigt und schrieb meinen Schulaufsatz per Hand. Wie sehr ich den Laptop vermisste, den mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt hatte!
An meinem fünften Abend in Li-La-Land saß ich mit meiner Tante und meinem Onkel auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum. Tante Val plapperte ohne Unterlass über die Nummer, die Sophie mit dem Tanzteam einstudierte, und darüber, für welche neuen Outfits sie sich entscheiden würden. Schwierige Frage: Gymnastikanzüge oder Hot Pants mit passenden Tops.
Von mir aus hätte Sophie genauso gut nackt auftreten können. Und wer konnte das schon wissen, diese Erfahrung würde ihr eines Tages vielleicht ein paar interessante Karrierechancen eröffnen. Aber sosehr mich Tante Vals Geschichte auch langweilte, ich genoss jede Silbe, weil sie in der realen Welt passiert war, nach der ich mich so schrecklich sehnte.
Mitten in einer ausufernden Beschreibung der fraglichen Gymnastikanzüge hörte ich das Funkgerät im Schwesternzimmer rauschen und knacken. Ich verstand zwar nicht, was gesagt wurde, doch offenbar war irgendetwas nicht in Ordnung.
Keine zwei Sekunden darauf hörten wir laute Schreie, gefolgt vom Summen des Türöffners. Die Tür flog auf, und zwei kräftige Männer in Krankenhauskitteln kamen herein. Sie zerrten einen Jungen in meinem Alter hinter sich her, der trotzig die Füße über den Boden schleifen ließ.
Der Neue war dünn und schlaksig. Er brüllte wie ein Stier irgendwelches unverständliche Zeug. Außerdem war er splitternackt und gerade dabei, die Decke abzuschütteln, die ihm jemand um die Schultern gelegt hatte.
Tante Val blieb vor Schreck der Mund offen stehen,
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