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Kaylee

Kaylee

Titel: Kaylee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Vincent
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einzelnen dieser blöden, glänzenden Jogginganzüge und jedes flauschige Paar Socken. Dazu meine Ausgabe von Schöne Neue Welt und den handgeschriebenen, fünfzehnhundertzweiundzwanzig Wörter langen Aufsatz. Ich hatte jedes einzelne Wort akribisch nachgezählt, und zwar dreimal.
    Ich konnte es kaum erwarten, von hier wegzukommen.
    Schwester Nancy quittierte die gepackte Tasche und das ordentlich gemachte Bett mit einer hochgezogenen Augenbraue, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars und begnügte sich damit, einen Haken auf ihrer Checkliste zu machen.
    Gegen Mittag wurde ich langsam nervös. Ich trommelte mit der Gabel auf dem Tisch herum und ließ den Teil des Parkplatzes, den man vom Fenster aus sehen konnte, nicht aus den Augen, falls Onkel Brendons Auto gleich auftauchte. Oder das von Tante Val. Lydia beobachtete mich die ganze Zeit über. Es war kaum zu übersehen, dass sie unter ständigen Schmerzen litt. Ihr Zustand verschlimmerte sich offenbar, und sie tat mir leid. Warum gab man ihr keine stärkeren Schmerzmittel? Oder bekam sie etwa gar keine?
    Gut eine Stunde nach dem Mittagessen, als ich gerade an meinem Puzzle saß, ertönte plötzlich ein lauter Knall aus dem Männertrakt. Die Angestellten rannten sofort los. Und kaum waren sie zur Tür hinaus, da ergriff die altbekannte Panik von mir Besitz und schnürte mir die Brust so fest zu, bis ich kaum mehr atmen konnte.
    Ich verspürte eine Woge bitterer, ernüchternder Verzweiflung. Nein, nicht schon wieder! Ich werde heute entlassen!
    Wenn das Geschrei wieder losging, würden sie mich nie rauslassen. Nicht wenn sie mich wieder ans Bett schnallen mussten. Nicht wenn sie mich so voller Drogen pumpten, dass ich fünfzehn Stunden lang durchschlief.
    Mein Herz peitschte das Blut so schnell durch meine Adern, dass mir schwindlig wurde. Obwohl alle anderen aufsprangen und sich im Türrahmen drängten, blieb ich sitzen. Noch hatte der Schrei nicht begonnen. Vielleicht konnte ich ihn zurückhalten, wenn ich ganz ruhig sitzen blieb. Vielleicht konnte ich es diesmal kontrollieren. Vielleicht halfen die Tabletten.
    Aus dem Flur drang ein dumpfer Schlag. Es hörte sich an, als prallte etwas Schweres gegen die Wand. Eine dunkle Panik wuchs in mir heran und ließ mein Herz vor Kummer überfließen.
    Jetzt taumelte auch Lydia hoch, die Augen geschlossen. Sie krümmte sich zusammen und fiel vornüber, doch ich konnte nur tatenlos zusehen. Mit den Knien schlug sie hart auf dem Boden auf. Sie stützte sich mit einer Hand auf – die andere presste sie sich auf den Bauch – und stöhnte vor Schmerz auf. Doch weil der Lärm aus dem Männertrakt alles übertönte, hörte sie niemand. Niemand außer mir.
    Ich wollte ihr helfen, aber ich hatte Angst, mich zu bewegen. Der Schrei stieg jetzt in mir hoch und bahnte sich seinen Weg hinaus. Schnürte mir die Kehle zu. Ich umklammerte die Stuhllehne so fest, dass meine Knöchel hervortraten. Die Tabletten zeigten keinerlei Wirkung. Hatten meine Panikattacken also doch nichts mit Schizophrenie oder einer Angststörung zu tun?
    Lydia kam schwankend auf die Füße und hielt sich am Tisch fest, um nicht umzukippen. Einen Arm um den Bauch gekrallt, streckte sie mir die freie Hand entgegen. In ihren Augen standen Tränen. „Komm mit”, flüsterte sie und schluckte schwer. „Wenn du hier rauswillst, dann komm jetzt mit.”
    Hätte ich noch reden können, hätte es mir glatt die Sprache verschlagen. Sie konnte sprechen?
    Ich atmete tief durch, ließ die Stuhllehne los und ergriff ihre Hand. Lydia zog mich mit erstaunlicher Kraft auf die Füße und an den anderen Patienten vorbei den Gang zu den Mädchenzimmern hinunter. Niemand schenkte uns Beachtung, weil alle in die andere Richtung schauten. Als auf halbem Weg ein entsetzlicher Schrei aus dem anderen Teil des Gebäudes ertönte, blieb Lydia wie angewurzelt stehen und krümmte sich vor Schmerz.
    „Es ist Tyler”, keuchte sie, als ich sie mit einer Hand hochzog, die andere auf den Mund gepresst, um den Schrei in Schach zu halten. „Der Neue. Er hat wahnsinnige Schmerzen, aber ich kann nicht mehr …”
    Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach. Ich konnte sie auch nicht fragen. Das Einzige, was ich in diesem Moment für sie und für mich tun konnte, war, sie vorwärtszuziehen. Was auch immer mit ihr los war, es hatte etwas mit Tyler zu tun. Und je mehr Abstand sie zu dem Geschehen dort drüben bekam, desto besser.
    Begleitet von immer lauter werdenden Schreien, taumelten wir in

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