Kaylin und das Geheimnis des Turms
Tatsache, dass er sie gesund gepflegt hatte, nachdem sie gemeinsam das Leben von vielen Waisenkindern gerettet hatten, machte Eindruck. Genug Eindruck, dass Kaylin sich entschlossen hatte, ihn für die nächsten Wochen auf jede mögliche Art zu ignorieren.
Falls es ihm aufgefallen war, ließ er es sich nicht anmerken. Aber das war typisch Severn. Immerhin hatte er sich den verdammten Wölfen angeschlossen und sieben lange Jahre darauf
gewartet
, dass sie ihn fand. Und er hatte sie aus Gott weiß für welchen Schatten beobachtet, wie ein Fenster in die Vergangenheit.
Sie mochte keine Fenster. Erstens ermunterten sie Diebe, und zweitens machten sie es so viel schwerer, ein kleines Zimmer zu beheizen.
Aber jetzt
konnte
sie ihn wenigstens ansehen. Sie konnte neben ihm stehen, ohne sich schuldig zu fühlen, weil er immer noch nicht gestorben war. Oder, wenn sie ganz ehrlich war, weil sie ihn immer noch nicht umgebracht hatte.
Er hob eine Augenbraue, als er sich von der langen Bank erhob, die nicht zum Verweilen einlud. “Kaylin.” Sein Tonfall sagte ihr eigentlich schon alles, was sie wissen musste.
Sie ging neben ihm her; er glänzte geradezu. Die offizielle Uniform fiel wie ein Vorhang aus Stahl von seinen Schultern, und das war sie ja auch. Die Falken trugen Übermäntel, er hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, seinen anzuziehen. So wie Kaylin war auch er in den ärmsten Straßen der Stadt aufgewachsen, und so wie Kaylin hatte auch er keine Eltern gehabt, auf die er sich verlassen konnte. Niemanden, der ihm sagte, wie man sich anzog, und wann, und warum.
Niemanden, der ihm seine Wunden verband, der ihm verbot, bei Nacht die Straßen der Kolonie zu betreten; niemanden, der ihm sagen konnte, dass man Männer, die auf Kinder Jagd machten oder sie in einen frühen Dienst zwingen wollten, besser mied.
Genau wie Kaylin hatte er diese Lektionen allein gelernt.
“Hast du deinen Auftrag gesehen?”, fragte er sie. Da er sie deutlich überragte, sah er auf sie hinunter, und das störte sie. Wenn es nach ihr ginge, sollte es strikte Größenbeschränkungen für den Einlass geben.
“Ja.”
“Ich habe ein, hm, Gerücht gehört.”
“Es stimmt.”
“Du weißt doch noch gar nicht, was es ist.”
Sie zuckte mit den Schultern. “Ist doch egal. Wahrscheinlich stimmt es.” Sie zögerte kurz. “Welches Gerücht?”
“Du hast noch einen kaiserlichen Magier beleidigt.”
“Ach das.” Sie zuckte mit den Schultern. Fast erwartete sie von ihm ein Lächeln. Aber nicht einmal Kaylin gelang es, sich fest genug etwas vorzumachen, um sein kurzes Stirnrunzeln als Belustigung interpretieren zu können. “Hast du von Teela gehört?”
Er sagte nichts und ging weiter. Sie nahm das als Ja. “Ich habe nachgedacht”, setzte sie an.
“Oh? Wann?”
“Sehr lustig. Du hast noch nie an den Feiertagen gearbeitet – die Wölfe sind nicht sehr gesellig.”
“Ich bin schon zu den Feiertagen berufen worden”, entgegnete er, darauf bedacht, möglichst neutral zu klingen. Dennoch überraschte es sie.
“Bist du?”
Sein Lächeln war wie eine Mauer. Eine verstärkte Mauer.
“Egal. Als Falke arbeiten ist nicht das Gleiche.”
“Nein. Es ist … interessanter.”
“Das bestimmt nicht. Man gibt dir Erlasse und die neuen Anordnungen, und man schickt dich zu ein paar weinerlichen, schwitzenden Möchtegernhändlern. Von der unlizenzierten Art.”
“Ich glaube, von denen habe ich schon ein paar getroffen.” Er zuckte mit den Schultern. “Ich bin nicht in der Nähe des Marktes eingeteilt.”
“Der Markt ist nicht das Problem. Ja, na gut, Kämpfe zwischen den echten, lizenzierten Händlern aufbrechen schon – aber das machen meistens die Schwerter.”
Er blieb stehen. “Ich nehme dich nicht mit.”
“Das wollte ich gar nicht fragen.”
“Sondern?”
“Mir ist aufgefallen, dass man dir keinen Partner zugeteilt hat, und da habe ich mich gefragt …”
“Kaylin, sehe ich aus, als würde ich noch atmen?”
“Es ist schon fünf Jahre her, seit Marcus das letzte Mal wirklich jemanden umgebracht …”
“Und ich würde gerne noch das sechste erleben.” Er schüttelte den Kopf. “Wenn du dir Sorgen um Teela machst, hier mein Ratschlag: Lass es. Sie ist eine Barrani. Das sind ihre Spiele.”
“Sie ist ein Falke!”
“Sie ist erst eine sehr, sehr kurze Zeit bei den Falken. Barrani ist sie schon sehr, sehr lange.”
“Du kennst sie nicht so gut wie ich.”
“Offensichtlich.”
“Severn …”
Er hob
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