Kaylin und das Geheimnis des Turms
gesehen, und sie wusste, dass er mehr oder weniger genau der war, der sie nach dem Tod ihrer Mutter unter seine Fittiche genommen hatte. Sie war damals fünf gewesen. Er zehn. Damals hatte sie gedacht, sie verstünde ihn – aber was hatte sie wirklich verstanden?
Dass er sterben würde, um sie zu beschützen.
Damit konnte sie leben.
Dass er töten würde, um sie zu beschützen.
Sie hasste die Richtung, die ihre Gedanken einschlugen, und schüttelte sie ab. Darin war sie über die Jahre gut geworden.
Noch dämmerte es nicht. Die Sonne näherte sich dem Flussbett, und das reflektierte Licht wandelte Teile des langsam fließenden Wassers zu einem Rosa, das den Mann, nach dem der Fluss benannt worden war, beschämt hätte. Sie blieb am Ufer stehen und sah es hinauf und hinab, so weit das Auge – und ihres war besonders scharf – reichte. An den Flussufern trafen sich viele Kleinkriminelle, um Gold gegen einen kurzen Augenblick der Flucht vor ihrem bemitleidenswerten Dasein zu tauschen. Es war leicht, dort Beweise verschwinden zu lassen, und der Fluss trug alles fort, ehe es gesammelt und vor Gericht verwendet werden konnte.
Natürlich vergaßen einige Offiziere an dieser Stelle die Gesetze, die auch für sie galten. Sie nannten es Selbstschutz. Sollte jemals einer der verletzten Dealer eine Beschwerde einreichen, wären Teela und Tain zu Stammgästen des kleinen Gefängnisses geworden, das sich hinter den Hallen befand. Aber komischerweise schien das alles ein großes Spiel zu sein, das man verlor, wenn man sich beschwerte.
Immerhin wussten alle, dass die Barrani erst seit etwa zwei Jahrzehnten Teil des Gesetzes waren – Kaylins ganzes Leben lang. Und ihr Gedächtnis reichte noch weit über diesen Zeitraum hinaus.
Selbst die Kleinkriminellen schienen beschlossen zu haben, ihre Waren lieber auf den Straßen, auf die sich die Festlichkeiten erstreckten, zu verkaufen. Und die Straßen? Sobald die Fuhrmänner dort ihre Arbeit erledigt hatten, konnte man sie kaum mehr betreten. Man konnte keinen Schritt tun, ohne von irgendwem seine Waren angeboten zu bekommen, normalerweise mit dreihundert Prozent Aufpreis gegenüber dem Rest des Jahres.
Sie fand sich am Fuß der Brücke wieder. Es war, laut den Berichten von Fremden, eine ganz normale, wenn auch wenig beeindruckende Brücke. Man konnte mit einem Pferd darüberreiten, und man konnte sicher auch eine Gruppe Soldaten darübermarschieren lassen – sie aber mit einem Wagen zu passieren war so gut wie unmöglich. Es sei denn, der Fahrer war übernatürlich begabt und hatte die Pferde perfekt unter Kontrolle.
Sie ritt nicht besonders gern. Sie stand da und beugte sich dann über das Geländer, um sich das Wasser unter ihr anzusehen. Hier, an der Grenze zu ihrem alten Leben, ließ sie den Tag von sich abfallen. Die Nacht war kühl für eine Feiertagsnacht; die Luft war klar. Sie fragte sich verstimmt, ob das Arkanum das Wetter kontrollierte; es war untypisch für die Jahreszeit.
Technisch gesprochen. In dieser Stadt, selbst auf dieser Seite des Flusses, bestimmte Macht den Tagesablauf. Wenn man sie hatte, war das Gesetz nur eine lästige Unannehmlichkeit. Solange niemand dabei umgebracht wurde, oder, wahrscheinlicher, solange man sehr, sehr gut darin war, seine Leichen verschwinden zu lassen.
Ihre Wange pochte dumpf. Mit ihrer Hand berührte sie, fast ohne es zu bemerken, eine Blume, die dort von der Magie, die sie am meisten hasste, platziert worden war. Na ja, am zweitmeisten. Die Magie, die sie am
meisten
hasste, war in ihre Arme, ihre Beine und jetzt auch ihren Nacken graviert.
Aber sie war ruhig gewesen. Wären die kaiserlichen Magier nicht so arrogant, hätte sie nichts, worüber sie sich beklagen konnte, und das war unnatürlich. Sich beschweren war, laut Garrity, das gottgegebene Recht derjenigen, die etwas wirklich Wichtiges taten, es war ihr kleiner Luxus. Wenn, sagen wir, die Pflicht größeren Luxus wie Trinken verbat.
Und sie tat gerade auch nichts “wirklich Wichtiges”, wie Garrity es ausgedrückt hätte. Die Feiertage waren ihr ausdrücklich verboten worden, es hatte sie überrascht, dass man sie nicht mit der ersten Kutsche aus der Stadt geworfen hatte.
Ihre Wange tat jetzt wirklich weh. Sie berührte sie, fragte sich, ob sie geschwollen war, ob die feinen Linien, die dort eine Blüte zeichneten, wie die Striemen einer Verbrennung waren und sie sich irgendeine blöde Entzündung zugezogen hatte. Ihre Haut fühlte sich kühl an, ihre
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