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Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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eine Hand. “Unpünktlichkeit scheint in deinem Fall unnatürlich häufig toleriert zu werden, allerdings wirklich nur bei
dir
.” Er setzte sich wieder in Bewegung und blieb dann noch einmal stehen. “Ich will dich nicht auf der Straße sehen”, sagte er, ohne sich umzudrehen, “aus dem gleichen Grund wie Marcus und der Falkenlord. Aber ich bin nicht Marcus, und ich bin nicht der Falkenlord.”
    “Was soll das wieder heißen?”
    “Ich habe mehr zu verlieren, wenn du dich den Befehlen widersetzt.”
    Eine Erinnerung. Eine, die sie nicht wollte.
    “Ich sage dir, was ich kann”, fuhr er fort, immer noch ohne sich umzudrehen, “aber bleib hier. Nicht einmal das Arkanum wird versuchen, dich in
diesen
Hallen zu erreichen.”
    “Irgendwann muss ich nach Hause gehen.”
    Er schlug gegen die Wand. Die Bewegung kam so schnell, dass sie sie nicht kommen sah. Sie sprang überrascht zurück. “Ich weiß”, sagte er leise. Dann ließ er sie stehen.
    Severn war nicht da, um sie nach Hause zu begleiten, und dafür war sie aus tiefstem Herzen dankbar. Das Gebiet, in dem sie wohnte, war nicht für seine kriminellen Aktivitäten bekannt, und die einzige Bedrohung auf den Straßen um ihr Gebäude herum waren die wenigen Wilden, die es über den Fluss Ablayne geschafft hatten.
    In den Kolonien kamen die Wilden häufig vor. Genau wie Mörder, und beide hatten die gleiche Wirkung – aber es gab etwas an den glänzenden, langen Fangzähnen, verborgen in einem Nest aus einer halben Tonne stinkendem Fell und riesigen Klauen, das die Wilden wie die größere Bedrohung erscheinen ließ. Sie waren nicht gerade intelligent; es war ihnen mit Sicherheit egal, ob ihre Mahlzeit reich oder arm war – etwas, was man von keinem anderen Bewohner der Kolonien sagen konnte.
    Aber sie waren selbst Bewohner der Kolonien.
    Sie hatten anscheinend eine Nacht lang auf dieser Seite des Flusses Angst und Schrecken verbreitet, und es hatte die ganze zweite Nacht gebraucht, bis die Wölfe des Gesetzes sie gejagt und vernichtet hatten. So ein Gesetz gab es in den Kolonien nicht, und die Straßen der Kolonien waren nachts aus genau diesem Grund verlassen.
    Nein, in den Kolonien fanden Verbrechen am Tag statt.
    Hier? Geschahen sie meist, wenn die Sonne unterging.
    Sie hatte es schwer gefunden, sich daran anzupassen, als sie zum ersten Mal über den Fluss gekommen war.
    Und von diesem Übertritt hatte sie den größten Teil ihrer Kindheit geträumt. Der Fluss war die Grenze. Am anderen Ufer würde sie unermessliche Reichtümer finden und Essen und Zuflucht an einem Ort, den sie ihr Eigen nennen konnte; sie würde Freunde finden und Menschen treffen, denen sie vertrauen konnte.
    Okay, sie war damals ein bisschen naiv gewesen.
    Schwer zu glauben, dass ein Mädchen aus den Kolonien naiv sein
konnte
– aber Träume starben nur schwer, und sie konnten so verdammt peinlich sein, wenn man sie mit jemandem teilte. Was sie, weil sie dumm gewesen war, getan hatte. Die Falken hatten wochenlang darüber geschmunzelt, und sie hatten nicht den Anstand gehabt, zu warten, bis sie ihnen den Rücken zukehrte.
    Sie hatte daraufhin deren Tintenfässer geklaut. Bis auf Garritys, ihm hatte sie unsichtbare Tinte hineingetan.
    Aber es hatte sie etwas gelehrt. Das Gesetz? Gab es aus einem bestimmten Grund. Und zwar aus dem, dass die Leute eben nicht so ehrlich waren, wie sie immer geträumt hatte, selbst wenn sie die Wahl hatten.
    Zu Hause hatte es keine Wahl gegeben: stehlen oder verhungern. Hier hatten sie die Wahl. Aber es galt: stehlen oder zurückgelassen werden. Worte hatten versagt, als sie versuchte, ihrer Abneigung Ausdruck zu verleihen, stattdessen hatte sie oft zugeschlagen. Oder es wenigstens versucht.
    An dieser Stelle hatte sie herausgefunden, dass das Gesetz auch für die Offiziere ebenjenes Gesetzes galt. Alles in allem eine Entdeckung, ohne die sie hätte gut leben können.
    Sie fragte sich, nicht zum ersten Mal, wie Severns Leben bei den Wölfen gewesen war. Er wollte nicht darüber reden. Und das war wahrscheinlich gut so, wenn er weiteratmen wollte. Er hatte diese Zeit in den Schatten verbracht, und die Schatten waren grausam. Sie waren die düsterste Miene, die das Gesetz der Bevölkerung zukehren konnte. Die Leute flüsterten über die Schattenwölfe, wenn sie zu viel getrunken hatten. Manche sagten, es gab alte Künste, die gute Menschen – na gut, schlechte Menschen – in etwas verwandelten, was nicht mehr menschlich war.
    Aber sie hatte Severn

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