Kaylin und das Geheimnis des Turms
Kaylin”, entgegnete er. Falls sie eine Entschuldigung oder eine Erklärung erwartet hatte, würde sie die von ihm nicht bekommen. Ihr ging auf, dass Samaran am Hof der Barrani überhaupt keinen Platz hatte. Das musste Samaran ebenfalls klar geworden sein, denn seine Augen wurden blau. Aber er zeigte keine Angst und kein Zögern, als er ihr und Severn seinen Respekt – und vielleicht Neid – entbot.
Der Lord der Westmarsche verbeugte sich ebenso tief, aber länger. Und als er sich erhob, lächelte er, und seine Augen, die grün waren, hatten einen Ring aus dem gleichen Braun, das auch Andellens Augen verändert hatte. “Es gibt nur einen Ort, an dem man warten kann”, sagte er leise zu ihr, “während die Prüfung abgelegt wird. Und der ist hier, im Herzen des Hohen Kreises, zu Füßen des Lords des Barranihofes.”
“Ich …”
“Dir ist gestatt worden, dich in den Hohen Hallen frei zu bewegen”, sagte er ernst, “und das vom obersten Lord selbst. Und die Gesetze, denen die Prüfungen unterliegen, sind älter als er. Er wird deine Wachen nicht richten.”
“Aber …” Sie sah in die Menge. Sah Teela. Sah neben Teela Lord Evarrim. Sie hatte von Lord Evarrim Einspruch erwartet, sah ihm aber an seinem Gesicht an, dass ihm die Argumente fehlten. Seine Miene war weder kalt noch warm. Und er war weit genug entfernt, dass sie die Farbe seiner Augen nicht erkennen konnte.
Jedenfalls hätte es so sein sollen. Aber sie waren blau.
Teelas waren blaugrün, ein blasses Blau mit goldenen Flecken.
“Falls man Euch die Möglichkeit nicht geboten hätte”, sagte der Lord der Westmarsche zu ihr, “Euch dem Ritual zu unterziehen, hättet Ihr den Turm nie gefunden. Wir sprechen von diesen Dingen nicht mit Außenstehenden”, fuhr er fort, “aber Ihr seid nicht länger ein Außenstehender. Und die Hohen Hallen stehen Euch jetzt offen, soweit es dem obersten Lord gefällt.”
Sie verstand es nicht.
Sah zu Andellen, weil er es zu verstehen schien, aber er bot ihr keine weiteren Erklärungen an. Als wäre auch das wieder ein Test. Andererseits war er Barrani, es konnte bloß Bosheit sein. Aber seine Augen waren braun. Anerkennung.
“Ihr habt die Mahlzeit verpasst”, raunte der Lord der Westmarsche ihr zu, “aber Euch werden Speisen gebracht werden.”
“Ich …”
“Euch werden Speisen gebracht”, wiederholte er bestimmt.
Sie lächelte strahlend und sah, wie Teela zusammenzuckte.
Was sie wirklich wollte, war ein Bad und andere Kleider, ein Bett und ungefähr eine Woche Schlaf. Aber sie würde sich mit Essen begnügen müssen.
Vor dem Essen kam Musik. Sie erklang von überall, als wäre sie Teil des Lichts, aber schließlich sammelte sie sich doch in Instrumenten, die von zwei Barrani gehalten wurden. Sie waren in ein blasses Hellblau gehüllt. Ihr Haar war geflochten und reichte fast bis auf die Steine des Kreises hinab. Sie sahen wie Zwillinge aus. Es war schon lange her, seit Barrani für Kaylin das letzte Mal wie Zwillinge ausgesehen hatten, und deshalb fragte sie sich, ob sie wirklich welche waren.
Doch ihre Musik war angenehm, sogar beruhigend, und sie verdarben die Klänge nicht mit Worten. Die Saiten ihrer kleinen Harfen schienen von Frieden zu erzählen, von Rast, von den kleinen Freuden am Ende einer erfolgreichen Reise.
Lieder der Barrani waren normalerweise Tragödien und düstere Balladen. Kaylin nahm an, dass es früher oder später auch zu denen kommen würde, und hoffte auf später, wenn sie nicht mehr dabei war.
Doch als sie sich setzte – neben den Thron selbst –, spürte sie das vertraute Knurren in ihrem Magen und zuckte zusammen. Das Essen wurde von anderen Barrani – groß und stolz und wie Lords und Ladys gekleidet – aufgetragen. Sie trugen dünne Teller und feine Kelche, sie brachten Flaschen mit schlanken Hälsen und Früchte – Pfirsiche, Beeren und braune, pelzige Dinger, die hoffentlich nicht lebendig waren. Alles wurde um sie herum auf dem Boden abgestellt, es gab keinen Tisch und auch keine Werkzeuge der Zerstörung.
Wie sie die etwa siebzig Messer, Gabeln, Löffel und andere Besteckteile nannte, deren Benutzung sie in der Schule nie ordentlich gelernt hatte.
Sie erwarteten von ihr, mit den Händen zu essen. Das war eine Erleichterung. Wahrscheinlich die einzige, die ihr blieb.
Der Lord des Barranihofes hatte sie beobachtet, und ihr wurde klar, dass die Erleichterung früher oder später vergehen würde. Sie war nicht daran gewöhnt, ein Ausstellungsobjekt zu
Weitere Kostenlose Bücher