Kaylin und das Geheimnis des Turms
unverletzt”, sagte er herzlich. Oder er hätte es so gesagt, wenn sie die Augen geschlossen und so getan hätte, als spräche jemand anders. Die Worte selber klangen freundlich. Was als Warnung ausreichte.
“Ich bin tollpatschiger”, sagte sie fröhlich. “Brot?”
“Ich habe bereits gegessen”, antwortete er kalt und starrte den angebrochenen Laib an wie eine Schabe. “Ich bin neugierig, Lady Kaylin. Was habt Ihr gesehen, als der Turm sich Euch geöffnet hat?”
“Jede Menge Treppen”, antwortete sie mit einem aufgesetzten Lächeln, das sie selber nicht für überzeugend hielt.
“Und nichts sonst?”
“Oh, jede Menge sonst. Messinggeländer, Wände. Stein. Zeugs.”
Seine Stirnfalten waren tief. Sie mochte den Titel einer Lady erlangt haben, aber sie hatte nicht viel Raum auf dem Schlachtfeld mit Evarrim gewonnen. In seinen Augen war sie sterblich. Sie fand das seltsam tröstlich.
“Nichts sonst, was von Interesse wäre?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Für einen Arkanisten? Das bezweifle ich. Ihr habt den Turm bereits gesehen”, fügte sie noch hinzu.
“Das habe ich. Viele Jahrhunderte vor Eurer Geburt.”
“Na ja, er wird sich nicht viel verändert haben.”
Sein Lächeln überraschte sie, es war nur sehr kurz und vollkommen echt. “Dann”, sagte er, “seid Ihr nicht vollkommen dumm.”
“Nicht vollkommen, nein.”
“Sehr gut. Hütet Eure Geheimnisse. Es wird wichtig sein, dass Ihr es lernt – denn jetzt habt Ihr Geheimnisse, die sich zu hüten lohnen.” Er begann sich zu erheben, und sie wendete sich wieder dem Essen zu.
Er packte ihre Hand. Umfasste sie, wie Teela es zuvor getan hatte, aber ohne Vorwarnung und ohne Freundschaft.
Und sie spürte die Kraft seines Namens in der Berührung wie Feuer oder noch schlimmer. Als könnte er Haut und Fleisch von ihrer Hand brennen und nur verkohlte Knochen zurücklassen.
Auch er spürte es. Er zog sich langsam zurück, ließ aber schnell los. Und seine Augen waren ein Blau, das sich in die Ewigkeit zu erstrecken schien und immer tiefer wurde. “So”, sagte er wieder. Und stand auf.
Sie wartete, während er dem Lord des Barranihofes seine Aufwartung machte, und merkte sich, wie er es tat. Anscheinend musste man, wenn man sich in der Gegenwart des besagten Lords erhob, ehrerbietig zeigen. Das konnte sie lernen. Sie musste.
Was sie allerdings interessierte, war nicht seine kurze Ehrerbietung, sondern der Blick, den die Lordgemahlin ihr zuwarf. Er ging durch den Lord und den Bittsteller hindurch und war für Kaylin bestimmt, für Kaylin allein. In ihm lag Müdigkeit und die Last von unsagbar langen Jahren.
Die Last, wurde Kaylin klar, für viel zu lange Zeit die Mutter einer ganzen Rasse gewesen zu sein.
Kaylin liebte die Hebammen. Sie liebte, was sie taten. Sie nahmen Geld dafür – aber auch Kaylin erwartete, für ihren Dienst bei den Falken bezahlt zu werden, und die Bezahlung machte sie nicht weniger stolz auf ihre Pflichten. Hebammen hatten einen gewissen Spielraum, sie nahmen Geld, wenn sie konnten. Wo es kein Geld gab, gingen sie dennoch hin und brachten Leben in die Welt. Sie retteten Leben.
Und in der Lordgemahlin sah sie, zu ihrer eigenen großen Überraschung, eine Mutter – und auch eine Hebamme. Aber eine Hebamme, die alleine arbeitete, ohne Gefährten. Ohne Lehrling, ohne Kaylin, die sie anrufen konnte, wenn die Dinge am schlimmsten standen und der Tod am nächsten war. Eine Frau, die die Verantwortung dafür trug, den Schlafenden Leben einzuhauchen, aber noch schlimmer – und auch das sah sie deutlich –, die Verantwortung für die Form, die sie annehmen würden.
Auf eine gewisse Art gab sie ihnen das ganze Leben vor. Nicht die Tatsache, wie es sterbliche Hebammen überall taten, sondern das
Ganze
. Es war eine atemberaubende Verantwortung.
Sie flüsterte ein Wort.
Leoswuld.
Und die Gemahlin lächelte. Es war ernst und traurig zugleich, und die Ränder ihrer Miene waren hart.
Es war nicht nur der Lord des Barranihofes, dachte sie, der sein Leben weiterschenken konnte. Auch die Lady würde es tun.
Und dann legte sie die Stirn in Falten. Sie sah noch mehr.
Sie stand auf, bürstete sich Krümel von ihren ruinierten Röcken und entbot dem Lord des Barranihofes eine perfekte Verbeugung. Aber es war die Gemahlin, der sie sich nähern wollte.
“Komm”, sagte die Lordgemahlin leise. “Dort hinter diesem Baum gibt es einen Brunnen … er gehört mir. Dort wird sich uns niemand nähern, der sich nicht meinem
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