Kaylin und das Geheimnis des Turms
Veränderungen nach. Wenn wir alle Veränderung verabscheuten, gäbe es kein
Leoswuld.
Du verstehst meine Last”, sagte sie noch leiser.
Und Kaylin schluckte und nickte. “Aber nur zum Teil. Ich glaube nicht, dass ich tun könnte, was Ihr tut, nicht für den Rest meines Lebens – und mein Leben ist verdammt kurz.”
Die Lordgemahlin sagte kein Wort.
“Ihr kennt alle ihre Namen.”
“Ich kenne einen Teil davon”, antwortete sie. “Genau wie eine sterbliche Mutter einen Teil ihrer Kinder kennt. Es ist nicht, als würde ich den Namen tragen”, fuhr sie leise fort, “aber es ist auch nicht so viel anders. Als ich jünger war …” Sie wendete den Blick ab und betrachtete die unruhige Oberfläche des Wassers. Als gäbe der Anblick ihr Kraft.
Als brauchte sie Kraft, um weiterzusprechen. Vielleicht war es so.
“Von unserer Art werden nur wenige geboren. Wir sind nicht wie die Sterblichen. Wir bestehen zwischen den Fugen der Geschichte, Teil von einem Zeitalter und Teil von einem anderen, aber nie ganz von einem oder dem anderen. Als ich jünger war, habe ich noch nicht so deutlich gesehen und hatte auch noch nicht die Kraft, so weise zu entscheiden.” Sie wartete.
Kaylin war sich nicht sicher, auf was. “Könnt Ihr die Worte lesen?”
“Ich kann sie auf die gleiche Art lesen wie du”, war die Antwort und keine sehr gute.
“Konnte ich nicht.”
“Dann kann ich sie vielleicht deutlicher lesen. Ich werde dich nicht fragen, was du getan hast. Jede Lordgemahlin muss ihren eigenen Weg finden.”
“Ich bin keine Lordgemahlin”, verneinte Kaylin schnell.
“Nein. Vielleicht nicht. Aber Barrani, die den Turm betreten, finden die Quelle nicht. Nur die Lordgemahlin wird dorthin geführt.”
“Musstet Ihr die Prüfungen ablegen?”
“Oh ja, Kaylin. Und sie bestehen.”
“Aber es gab …”
“Damals gab es nur eine Tochter des obersten Lords. Ja. Aber
Leoswuld
ist die Gabe, die wir an unsere Sippe weiterreichen. Und was ich meiner Tochter schenke, ist Teil des Pfades, der sie an die Quelle führen wird. Von dort aus muss sie selbst zurückkehren, wie alle Barrani es tun, die sich den Hohen Hallen stellen.”
“Und wenn sie versagt?”
Das Schweigen war furchtbar. Selbst das Wasser schien zu erstarren.
“Schon gut.”
“Nein, ich werde dir antworten. Wenn sie versagt, muss eine andere ihren Platz einnehmen,
ohne
die Gabe, die ich ihr gegeben habe. Und wenn sie nicht stark genug ist, nicht entschlossen genug, müssen wir warten, bis eine kommt, die es ist, und die Kinder, die in dieser Zeit geboren werden, müssen sterben, wahrhaftig, denn ohne das
Wort
ist kein Leben in uns. Das ist schon vorgekommen”, fügte sie noch hinzu.
“Aber …”
“Ja?”
“Aber dieses Warten … ich verstehe nicht. Ihr könnt doch nicht warten, bis eine andere geboren …” Kaylin erstarrte.
“Nein. Wir werden uns nicht auf eine kommende Generation verlassen. Die Frauen werden kommen. So wie wir sie brauchen, eine nach der anderen, und alle werden sich dem Turm stellen.”
“Und Eure Tochter?”
“Sie ist meine Jüngste. Ich glaube, sie hat die Kraft.” Sie hielt inne, ehe sie weitersprach. “Der Lord der grünen Auen ist mein Ältester, und er wurde geboren, als ich noch sehr jung war. Seine Geburt war ein Geschenk, jedenfalls glaubte ich das damals. Und ich bin an die Quelle gegangen, mit ihm in meinen Armen, und habe für ihn einen Namen gewählt, der mir Glück verheißend erschien.” Wieder schwieg sie, doch dieses Mal bewegte sich das Wasser. Auch der Wind. Und sie war auf eine Art schön, bei der Kaylin sich nicht schmutzig und ungelenk vorkam. Eine Lüge.
Kaylin musste sich räuspern. “Der Lord der grünen Auen …”
Die Lordgemahlin berührte Kaylins Hand.
Die Lichter, die diesen ruhigen, kargen Ort erhellten, leuchteten auf, bis sie weiß waren. Kaylin blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Sie konnte die Lordgemahlin deutlich sehen – und nur sie, selbst der Brunnen war verschwunden.
Ich bitte dich, nicht einzugreifen.
Ich verstehe nicht.
Ich weiß. Ich weiß, Kind. Aber ich habe seinen Namen gewählt und inzwischen begriffen, was in dieser Wahl liegt. Es ist für mich bitter, aber mein ganzes Leben ist mir bitter geworden. Ich bitte dich noch einmal – weil ich es nicht befehlen kann, selbst der Lord des Barranihofes kann es nicht –, greif nicht ein.
Aber er ist … sein Name …
Ich weiß.
Es war die Stimme einer Mutter. Der Schmerz einer Mutter.
Ich weiß, was du
Weitere Kostenlose Bücher