Kaylin und das Geheimnis des Turms
bist. Ich kann es sehen. Du bist ein Falke, und das macht dich aus. Du fliegst und du jagst. Flieg, kleiner Falke, und jage. Aber greife nicht ein.
Kaylin versprach es ihr fast. Sie versuchte es sogar, weil sie – nur für einen Augenblick – dachte, dass dieses Versprechen dieser fremden und schönen Frau Frieden bringen konnte.
Doch ihre Lippen – falls sie sie überhaupt bewegte – wollten sich nicht öffnen. Sie konnte die verdammten Worte nicht aussprechen.
Und sie erinnerte sich an etwas, das Nightshade ihr gesagt hatte.
Du kannst mich nicht belügen.
Nicht so.
Es sollte keine Lüge sein. Es sollte die Wahrheit sein. Aber sie wurde ihr entrissen.
Das Lächeln der Lordgemahlin war bitter, aber es lag keine Wut darin. Nur das Flackern von etwas, das Hoffnung sein mochte.
Ich versuche es
, sagte Kaylin. Es war alles, zu dem sie sich zwingen konnte.
Und die Lordgemahlin hob eine Hand und berührte das Zeichen auf Kaylins Wange. Sie flüsterte etwas, das wie ein Name klang. Wie Nightshades
Name
. Aber es lag keine Wut und kein Hass in dem Flüstern. Nur Mitleid und Schmerz.
Sie ließ los, und die Welt kehrte zurück. “Geh jetzt und sprich mit meinem Sohn. Meinem jüngeren Sohn”, ergänzte sie mit einem entschlossenen Lächeln. “Er wartet, und er drängt mich. Er wird sich nicht damit beschämen, uns zu unterbrechen, aber er ist ungeduldig.”
16. KAPITEL
D er Lord der Westmarsche wartete tatsächlich. Und er stand auf dem Pfad, der bis an den Brunnen führte. Er hatte die unsichtbare Linie nicht überschritten, die deutlich besagte: “Bis hierher und nicht weiter”, aber er musste furchtbar nahe gekommen sein, das ließ sich aus der Farbe der Augen der Lordgemahlin ablesen.
Andererseits, so resigniert, wie sie aussah – und es war offensichtlich genug, dass sogar Kaylin es merkte –, war es nicht das erste Mal, dass er so weit ging. Sie fragte sich daraufhin, wie er als Kind gewesen war. Und wie sehr er sich verändert hatte. Sie hatte den Verdacht, wenn sie seine Mutter fragte, wäre die Antwort im Augenblick “überhaupt nicht”, und beschloss es zu lassen.
“
Kyuthe”
, sagte der Lord der Westmarsche und entschied sich damit für die weniger förmliche Anrede. Seine Verbeugung allerdings machte den Mangel des Titels, den Kaylin sowieso nicht wollte, wett. “Dein Begleiter war müde und hat sich mit deinen Wachen in meinen Flügel zurückgezogen. Ich habe ihnen versprochen, dass ich selber dafür sorgen werde, dass du sicher dorthin gelangst.”
Sie konnte sich vorstellen, dass er das getan und das Gewicht dieses Versprechens geringeren Sterblichen den Rücken gebrochen hatte. Es schien ihm nichts auszumachen.
“Ich werde dich jetzt verlassen, Kaylin”, sagte die Lordgemahlin und entschloss sich ebenfalls gegen den Titel. “Denn ich fürchte, mein Sohn wünscht vieles mit dir zu besprechen, und
jeder
, der die Prüfungen besteht, ist danach müde.” Damit hatte sie den Lord der Westmarsche gemahnt, der es gnädig hinnahm.
Andererseits hätte er wahrscheinlich auch einen Dolch hoheitsvoll akzeptiert. Er trat zur Seite, damit seine Mutter an ihm vorbeigehen konnte. Als diese fort war, sah er Kaylin in die Augen. Seine waren wieder grün. Wohlwollen, so schien es, dauerte nicht lange.
“Es sieht aus”, sagte er und blickte den Pfad hinab auf den Rücken seiner Mutter, “als hättest du die Lady des Barranihofes beeindruckt.”
“Ich bin mir nicht sicher, ob ‘beeindruckt’ das richtige Wort ist.”
“Du kennst die Lordgemahlin nicht”, lautete die trockene Antwort. “Es ist das richtige Wort. Sie ist nur selten beeindruckt genug, um mit einem Neuankömmling bei Hofe privat zu werden.”
“Ich bin nicht gerade …”
“Als Lady”, unterbrach er sie.
“Oh.” Sie ließ das Wort in der Luft hängen und fand noch andere, die sie hinzufügen konnte. “Andellen …”
“Ja. Ich habe mich mit dem obersten Lord besprochen. Er war bereit, deine Wachen hinrichten zu lassen, weil sie sein Gesetz gebrochen haben. Aber die Umstände verlangten, dass ein älteres Gesetz Vorrang hat – sollte er sich dazu entschließen –, und er tat es. Der Ausgang von allem hat ihn interessiert, und ihn interessiert nur noch wenig.”
“Er hat nicht erwartet, mich zu sehen.”
Der Lord der Westmarsche runzelte die Stirn. “Das würde ich nicht sagen,
Kyuthe
. Ich würde fast das Gegenteil behaupten. Er
hat
erwartet, dich zu sehen, und er hat beschlossen, dass es schlecht wäre,
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