Kaylin und das Geheimnis des Turms
hatte keine Ahnung, was.
“Severn hat sie bestanden.”
Der Lord der Westmarsche hob eine Augenbraue. Sein Nicken war ein Zugeständnis. “Wir verstehen nicht ganz, wie oder warum es ihm gestattet war, dich zu begleiten. Wir verstehen – aus dem wenigen, was Lord Andellen uns bereit war zu erzählen –, dass es
deine
Prüfung sein sollte.”
“Warum?”
“Du hast die Rune gesehen”, antwortete er. “Dein Begleiter nicht.”
Wohl wahr. Sie hob eine Hand und berührte die Wand. Sie mochte das Gefühl von glattem, kaltem Stein, es linderte den Schmerz in ihrem linken Arm. “Glaubst du, Lord Nightshade wollte, dass ich den Turm betrete?”
“Genau das glaube ich, ja.”
“Warum?”
Sein Lächeln war dünn. “Du bist Sein”, lautete die schlichte Antwort. Als ihre Miene sich verfinsterte, vertiefte sich sein Lächeln. “Es gibt noch einen Grund zur Sorge”, teilte er ihr mit, als sie ihren Arm sinken ließ. “Du bist zwar dem Ritual nach eine Lady des Barranihofes, aber du hast dem Lord des Barranihofes keinen Eid der Treue geschworen.”
“Ich habe den einzigen Eid der Treue geschworen, der mir freisteht”, antwortete sie leise.
“Dem Lord der Falken?”
Wieder nickte sie.
“Der Lord der Falken hat in den Hohen Hallen kein Waltungsrecht und keine Kontrolle darüber, was in ihnen geschieht. Nicht einmal der Kaiser selbst wäre so dreist oder so dumm. Ein Eid, der hier geschworen wird, gehört an dieses Ort. Oder er sollte es wenigstens.”
“Aber ich nicht”, sagte sie. “Und ich habe nicht vor, hierzubleiben. Ich bin kein Barrani.”
“Wie du meinst. Aber du wirst wenigstens zwei Tage bleiben, es sei denn, du willst deinen Titel aufgeben – und damit vielleicht dein Leben.”
Das führte wie üblich dazu, dass sie ihm ihre gesamte Aufmerksamkeit schenkte. Nicht dass sie sonderlich abgelenkt gewesen war. “Sag das Letzte noch mal.”
“Der Hof der Barrani wird erstarken, um der
Leoswuld
und dem Ableben unseres Lords beizuwohnen. Es ist ein barranisches Ritual, und nur wenige haben mehr als eine solche Übergabe erlebt.” Er hielt inne, ehe er weitersprach. “Lord Evarrim ist einer von ihnen.”
“Er will nicht, dass ich hier bin.”
“Wie aufmerksam von dir.” Es war verachtend gemeint, in genau dem Tonfall, den sie benutzte, wenn eines der Findelkinder sich einen Eimer Wasser über den Kopf kippte und sagte: “Ich bin nass.”
“Ich verstehe nicht, welche Rolle das Arkanum bei allem spielt”, gab sie zu.
“Das Arkanum? Soweit es in den Hohen Hallen existiert – und Lord Evarrim ist nicht der einzige Barranilord, der mit der Liga der Arkanisten zusammenarbeitet –, will es nichts.”
Sie runzelte die Stirn.
“Er ist zuerst Barrani, danach Arkanist. Die Macht, die er aus seiner Zusammenarbeit mit dem Arkanum zieht, benutzt er, um seine Ziele als Lord zu verfolgen. Nicht mehr und nicht weniger. Von ihnen lässt er sich nicht benutzen.”
Sie schwieg einen langen Augenblick. “Aber das Arkanum hat irgendwas damit zu tun.”
Er blickte zu ihr und wieder fort. Sie konnte die Farbe seiner Augen nicht erkennen. “Warum sagst du das, Kaylin?”
“Im Arkanum hat es einen Rückstoß gegeben.”
“Und das konnte nichts mit ihren Tätigkeiten im Rest der Stadt zu tun haben? Es sind die Feiertage, und ich glaube, die Straßen von Elantra sind stark bevölkert.”
Sie verzog den Mund. “Nein.”
“Nein?”
“Nein soll heißen, du weißt, was das Arkanum getan hat.”
“Tue ich das?”
“Ja.”
“Und wieso bist du dir da so sicher?”
Weil du mich nicht ansiehst, dachte sie. Und weil du die falschen verdammten Fragen stellst. Sie blieb stehen. Nach einem oder zwei Schritten hielt auch er an. “Hören die Spielchen hier nie auf?”
“Fast nie, Kaylin.”
“Du willst etwas von mir”, sagte sie leise zu ihm, “und ich spiele keine Spielchen. Sag mir, was du weißt.”
“Ich weiß nur sehr wenig. Es ist bei uns nicht Brauch, mit Sicherheit von etwas zu sprechen, was so unsicher ist.”
“Es ist bei euch Brauch, zu lügen. Ich glaube fast, ihr tut es zur Entspannung.”
Er schwieg eine Weile. “Du trägst Lord Nightshades Zeichen”, sagte er schließlich mit neutraler Stimme, “und aus diesem Grund, Kaylin, wird niemand deine Fragen beantworten.”
“Nicht einmal du?”
“Nicht einmal ich.” Er ging weiter, ohne sich zu ihr umzudrehen. Sie folgte ihm. Dachte nach. Der Rückstoß hatte, so weit sie wusste, Stunden, bevor der Lord der
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