Kaylin und das Geheimnis des Turms
Lord Evarrim schließlich. “Nach den Feiertagen.” Er drehte sich um und ging davon, und der rote Umhang wirbelte um seine Füße wie Blut.
Sie beschleunigten ihre Schritte. “Was sollte das?”, fragte Severn sie, als er sich sicher war, dass der Barranilord außer Hörweite war.
Kaylin ließ sich Zeit mit der Antwort. “Ich glaube, es war eine … Drohung.”
“Schon verstanden”, sagte Severn. “Warum?”
Sie zuckte mit den Schultern. Jede Antwort, die einen Sinn ergab, gefiel ihr nicht. Sie fragte sich, was Teela gerade machte. Es war besser, als sich zu fragen, was man
mit ihr
machte.
Aber wenigstens war sie nicht länger müde.
Die Wachen an den Eingangstoren waren Schwerter. Kaylin erkannte sie, aber blieb nicht stehen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Die Männer waren dienstfertig gekleidet, und sie war offensichtlich nicht gut genug angezogen.
Sie ging unter den gewölbten, fast leeren Decken des Falkenhorsts entlang. Ein einzelner Aerianer flog durch den hohlen Raum, die grauen Schwingen unter buntem Glas entfaltet. Severn klopfte ihr sanft auf die Schulter, und sie erinnerte sich, dass sie sowieso schon zu spät dran war.
Sie erreichte die Tür, ging in ihrer gewohnten Geschwindigkeit hindurch – sie rannte, so schnell sie konnte, und blieb nur kurz bei zwei Falken stehen, die sie kannte. Die zwei grinsten fast unverschämt.
“Tanner”, sagte sie zu dem größeren der beiden, beide menschlich, “wie viel Ärger habe ich?”
Er lachte. “Kommt darauf an.”
“Auf was?”
“Darauf, wie viel Spaß es Eisenbeißer macht, einen kaiserlichen Magier bei Laune zu halten. Eine Stunde lang.”
Sie krümmte sich zusammen.
Eisenbeißer, wie man Marcus liebevoll bezeichnete – je nachdem, wie man “liebevoll” definierte –, sprach tatsächlich mit einem Mann, der die Roben der kaiserlichen Magier trug. Sie waren grau mit blauer Borte, einer Kapuze und unwahrscheinlich viel Goldstickerei, die im dumpfen Licht verblasste.
Dass der Magier nicht herumbrüllte, stimmte sie hoffnungsvoll, und dass Marcus nicht aufgeplustert war wie eine wütende Katze, war noch besser. Seine Arme waren vor seiner Brust gefaltet, und er hatte seinen Stuhl verlassen, aber das konnte daran liegen, dass er sonst hinter einem Berg Papierkram nicht zu sehen gewesen wäre.
Sie konnte hoffen.
Severn verkrümelte sich, kurz bevor sie das Büro erreicht hatten, und sie hatte nicht einmal mehr Zeit, sich bei ihm zu bedanken oder ihn zu beschimpfen. Sie hatte genug Zeit, noch zu versuchen, ihre Tunika zurechtzuziehen, während sich die gesamte Bürobesetzung zu ihr umdrehte. Na gut, die meisten von ihnen. Einige waren zu beschäftigt, um Dinge mitzubekommen, die nichts mit Geschrei, Feuer oder Blut zu tun hatten.
Marcus hatte sie natürlich schon wahrgenommen, wahrscheinlich hatte er sie bereits bemerkt, ehe sie ihn gesehen hatte. Leontiner hatten ein gutes Gehör und einen außergewöhnlich ausgeprägten Geruchssinn. Aber er war heute ein höflicher Leontiner.
Das machte ihr Angst.
Sie kämpfte sich zu seinem Schreibtisch durch und stellte sich seitlich hinter den Rücken des kaiserlichen Magiers.
“Gefreite”, sagte Marcus mit einem rollenden Knurren.
Okay, ganz gut war es also nicht.
“Hauptmann Kassan”, antwortete sie. Sie salutierte nicht, aber sie stellte sich gerade hin. Das machte sie ein unbedeutendes Stück größer.
“Wie nett von dir, dich zu uns zu gesellen. In deiner Abwesenheit habe ich unserem
Gast
deine mehr als unpassenden nächtlichen Gewohnheiten erklären dürfen.”
Die Betonung des Wortes “Gast” war wie eine Warnung, mit Fangzähnen und Fell.
Der kaiserliche Magier drehte sich um. Er stand leicht gebeugt, als sei sein Alter eine Last. Sein Haar war ein Schopf von blassem Weiß. Aber seine Augen – seine Augen waren golden getönt, und sein Lächeln war ein Zucken über hellen Zähnen.
Sie erkannte den Mann. “Ihr … aber Ihr seid … Ihr seid nicht … Ihr …”
“Kaylin ist nicht für ihre Fähigkeit, aus dem Stegreif Reden zu halten, berühmt”, kommentierte Marcus trocken. “Ich glaube, du kennst Lord Sanabalis bereits?”
Sie wurde ins Westzimmer abgeschoben. Marcus führte sie dorthin, öffnete die Tür und hielt sie für Lord Sanabalis auf. Kaylin zögerte einen Augenblick, dann trat sie an den runden Tisch in der Mitte des Raumes.
“Wage es ja nicht, diesen Mann zu verärgern”, raunte Marcus ihr streng ins Ohr.
Sie nickte automatisch. Natürlich hätte
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