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Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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Kaylin sich noch nicht oft gewagt hatte. Sie waren alt und sprachen nicht von Pracht, sondern von Bedrohung, sie sprachen von Tod, und der Wind, der in ihren Höhen brauste, nicht vom Fliegen, sondern vom Fallen.
    Sie schüttelte sich. Severn sah ihr zu – soweit er es auf der holprigen Fahrt konnte.
    “Die Kolonien”, sagte er. Keine Frage.
    Sie schluckte und nickte. Die Jahre breiteten sich zwischen ihnen aus. Auch Tod lag darin. Am Ende wendete Severn sich ab – aber nur weil er musste, die Kutsche drohte wieder zu kippen.
    Es gab
so viel
, das sie gern gewusst hätte. Und so viele Fragen, vor denen sie Angst hatte. Sie war in solchen Augenblicken noch nie gut mit Worten gewesen, sie waren ungelenk statt tiefsinnig und meistens mit einer spitzen Zunge gesprochen.
    Also versuchte sie stattdessen nur, nicht umzufallen.
    “Erinnere mich daran”, sagte er, als die Kutsche langsamer wurde, “Teela nie wieder fahren zu lassen.”
    Sie versuchte zu lächeln. “Als ob”, sagte sie, “du daran erinnert werden müsstest.” Ihre Beine fühlten sich flüssig an.
    Er hatte den Verstand, sie nicht zu fragen, ob alles in Ordnung war. Aber als die Kutsche vor hohen, steinernen Säulen stehen blieb, in die Porträts von Barraniladys und -lords gehauen waren, öffnete er die Tür. Er glitt hinaus, machte einige unsichere Schritte und richtete sich dann auf.
    Sie schloss ihre Augen.
    Er legte seine Hand auf ihren Arm. “Kaylin”, sagte er leise, “komm.”
    Sie nickte und biss sich auf die Lippen, als sie die Augen öffnete und seinem Blick begegnete. Die Säulen waren auf jede Art perfekt. Große Barrani, wie imposante Götter, deren Roben mit Goldadern und Edelsteinen verziert waren. Sie kam sich daneben wie ein Zwerg vor. Sie fühlte sich ungelenk, klein, dick – und ganz, ganz falsch angezogen.
    Severn aber war kein Barrani. Ihm fiel es nicht auf.
    Er bot ihr seinen Arm und seine Schulter als Stütze, und sie ließ ihn. Die Sonne warf einen Schatten wie eine Laube über sie.
    Teela sprang aus dem Fahrersitz und ordnete ihre smaragdgrünen Röcke, bis das Gold in ihnen das Licht einfing und reflektierte wie ein Waldboden. Ihre Röcke waren weit und lang, viel zu lang für jemanden von Kaylins Größe.
    Teela sprach einige Worte zu den Pferden, leise Worte, die ein bisschen nach Barrani klangen, aber keine richtigen Worte waren. Die Pferde, die alle Schaum vorm Maul hatten, beruhigten sich langsam. Ihre Nüstern waren groß genug, um eine Faust hineinzustecken.
    “Sag kein Wort”, befahl Teela Kaylin leise, als sie die Pferde verließ und zu ihnen trat. Sie schien es nicht für nötig zu halten, Severn ebenfalls zu warnen.
    Kaylin nickte. Sprechen war in Anbetracht ihres Magens im Moment sowieso nicht ihre oberste Priorität. Sie unternahm einige zögernde Schritte, blieb aber wieder stehen, als ihr klar wurde, welche Fassade sich hinter den Säulen verbarg. Sie hatte schon Kathedralen gesehen, die kleiner waren. Und auch runder. Die Barrani bevorzugten flache Oberflächen vor den weiter verbreiteten Kuppeln. Für sie sah es allerdings wie ein einziges Stück Stein aus, an dem sich Ranken mit erstaunlich violetten Blüten hinunterschlängelten. Zwischen zwei offenen Torbögen stand ein Brunnen, dessen Wasser aus der steinernen Rundung einer kunstvoll gestützten Vase troff. Die Statue, die die Vase trug, schien eine perfekte Alabasterfrau zu sein, halb nackt, mit den Füßen im Wasser.
    Sie sah fast lebensecht aus.
    Und Kaylin hatte schon in den Hallen der Nachtschattenburg gesehen, wie Statuen zum Leben erwacht waren.
    “Kaylin”, sagte Teela, jede Silbe schneidend wie eine kleine Klinge, “was machst du da?”
    “Ich starre”, murmelte sie. Sie hatte fast Angst. Jetzt, hier. Beinahe war es, wie in einem fremden Land zu sein. Sie war vorher noch nie in diesem Teil von Elantra gewesen. Ihr wäre die Erlaubnis selbst dann nicht erteilt worden, wenn sie auf Händen und Füßen darum gebettelt hätte.
    Jetzt, da sie vor dem Gebäude stand, wusste sie, warum. Sie gehörte nicht auf diesen Pfad. Bis zu diesem Gedanken hatte sie ihn nicht einmal bemerkt. Sie sah hinab zu dem, was sich unter ihren Füßen befand. Sie hatte es für Stein gehalten, aber jetzt konnte sie sehen, dass es etwas Weicheres war. Wie Moos, wie etwas, das perfekter als Gras war, und ihre schweren – und abgestoßenen – Stiefel hinterließen darin keinen Abdruck.
    Teela stieß sie in die Rippen. “Wir haben keine Zeit”, flüsterte sie.

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