Kaylin und das Geheimnis des Turms
“Ich habe sie nicht entworfen”, sagte er, als sie ihn wütend anstarrte.
Aber er hatte seine Ausgehuniform an. Wenn sie ihn anguckte statt den Boden unter ihren Füßen, konnte sie beinahe so tun, als schlenderte sie durch eine wirklich reiche Nachbarschaft, auf einer nutzlosen Patrouille, die nicht in Arbeit ausartete. Und keinen Papierkram machte.
Normalerweise war das während der Feiertage Teil des Jobs: bloß nicht noch mehr Papierkram verursachen. Die Bürofalken waren, was das anging, ziemlich empfindlich. Und weil Marcus während der Feiertage an die Bürohölle gefesselt war – wenn auch als Aufseher –, hatten sie eine Menge Unterstützung dabei.
Also machte sie hier … nur ihren Job. Neben Severn, der seinen erledigte. Sie fragte sich, wie sehr er die Wölfe vermisste, sie hatte sich nie getraut, zu fragen. Er wäre jetzt wieder bei ihnen, wenn man ihr nicht die Wahl gelassen hätte.
Sie fragte sich, ob er es wusste.
Überlegte sich, es ihm zu sagen. Verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Das Timing war schlecht. Auch wenn sie mit aller Macht so tat, als gingen sie bloß durch ein Stadtviertel, konnte sie sich doch selbst nicht täuschen.
Er führte sie den Korridor hinab und blieb mehrere Male stehen. Die Wände bestanden aus Lücken, von denen aus man zu kleinen Gärten gelangte. Kleine, perfekte Gärten. Sollte es noch Wildheit im Wachstum der Blätter und Blumen geben, war es eine kunstvolle Wildheit. Sie erwartete fast, irgendwo eine Signatur des Künstlers zu finden.
“Versuch dir die Gänge zu merken”, sagte er ihr, als diese sich teilten. “Sie gehören zum Bereich des Lords der Westmarsche, und wenn irgendwas passiert, solltest du dich hier befinden.”
“Was für ein Irgendwas?”
Er zuckte mit den Schultern.
Andellen sprach leise. “Ich kann dich zurück in diese Gänge führen.”
Es überraschte sie beide.
“Du hast hier gelebt”, stellte Kaylin fest.
“Viele Jahre.” Er war gegen Mitleid vollkommen immun, und sie beleidigte ihn nicht, indem sie es damit versuchte. Aber sie sah ihm in die Augen und bemerkte Grün in ihnen. Er war nicht verärgert.
“Hat sich viel verändert?”
“Die Natur der Hohen Hallen hat sich nicht verändert.” Was auch eine Antwort war.
Sie lächelte strahlend. Es war ein kläglicher Versuch, aber der Ausdruck blieb dennoch an ihrem Gesicht kleben wie eine schlecht angepasste Maske. “Ich habe eine Idee!”
Severn zuckte förmlich zusammen. “Kaylin …”
Sie sprach wieder mit dieser gezwungenen, fröhlichen Stimme. “Du kannst uns herumführen!”, schlug sie Andellen vor, auf Elantranisch.
Seine Augen wechselten nicht die Farbe. “Wenn du es wünschst”, sagte er, “werde ich euch führen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es hier so interessant ist wie in der Nachtschattenburg.”
“Gut.”
Sein Lächeln war ehrlich. Er trat an ihr vorbei, ließ Samaran ihren Rücken decken und Severn an ihrer Seite gehen. Und er ging langsam, als würde er in diesen einfachen Schritten das ganze Leben, das er verloren hatte, wiederentdecken.
Sie folgten ihm, sahen, was er sah, und bemerkten es gleichzeitig nicht. Manchmal blieb er stehen, legte eine Hand an eine glatte Wand und nickte. Falls Magie in der Wand steckte, konnte Kaylin sie nicht spüren. Aber ein gutes Gedächtnis gehörte nicht zu ihren Gaben – und das Gedächtnis der Barrani wurde überall nur als lang bezeichnet. Und tief.
Severn fasste nach ihrer Hand, sie hatte sie gehoben, um Andellen an der Schulter zu berühren, ohne nachzudenken. Als wäre er Tain oder Teela, hatte er sie aufgehalten. Aber als sie ihre Hand sinken ließ, hielt er sie weiter fest, ihre Finger verschränkten sich, und andere Erinnerungen drängten sich auf, als sie weitergingen.
Die Straßen der Kolonie im Winter. Die Kälte der Luft. Das Fehlen von warmer Kleidung. Der sichere Tod, ohne Schutz. Sie schloss die Augen. Sie waren oft so gegangen, wenn es kalt war, zusammengepresst, als könnten sie einfach Seite an Seite stehend eine Wand bilden, die den Winter aussperrte.
Sie öffnete die Augen.
Andellen stand in einem Torbogen, die Hände an die glatte, runde Wände gelegt, sein Kopf direkt unter dem Schlussstein, der alles zusammenhielt. Hinter ihm sah sie Wand, alte Steine.
Und ein Symbol.
Sie zog Severn vorwärts. Als sie den Rücken des Barrani erreicht hatten, sah sie, dass der Torbogen in einen Turm führte. Treppenstufen wanden sich hinauf und herab, so weit das Auge reichte.
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