Kaylin und das Geheimnis des Turms
Noch weiter, dachte sie, und ihr wurde leicht schwindelig, als sie ihren Kopf zu weit zurücklegte.
Sie runzelte die Stirn. “Andellen …”
Er sah sie jetzt an.
“Severn, der Turm …”
Er nickte. Er hatte es gesehen. Die Treppen reichten ewig nach oben – und ewig war selbst von ihrem menschlichen Standpunkt aus zu weit. Sie hatte die Hallen von außen gesehen, sie wusste – so wie jedes Lebewesen in Elantra wusste –, dass es kein Gebäude gab, das höher war als der kaiserliche Palast. Kein Gebäude durfte sich diese Höhe erlauben, bis auf die Gesetzeshallen.
Und doch …
Das Zeichen auf der Wand hinter den Treppen musste Hochbarrani sein. Sie konnte es nicht lesen, aber an der steifen Haltung von Andellens Rücken erkannte sie, dass er es konnte.
“Ich fürchte, ich habe euch vom Weg abgebracht”, sagte er leise zu ihr. “Das hier ist kein Ort für schlendernde Gäste.”
“Ich darf mich in den Hohen Hallen frei bewegen”, widersprach Kaylin vorsichtig, “und ich bin im Leben schon viele Treppen rauf- und runtergestratzt.” Das Letzte war Elantranisch, auf Hochbarrani gab es dafür keinen passenden Ausdruck.
“Was steht da?” Sie zeigte auf die Rune.
Er betrachtete ihren schlanken Arm, von dessen Handgelenk ein nutzloser Vorhang aus glänzendem grünem Stoff hinabhing. “Du kannst sie sehen?”, fragte er sie verwundert.
Sie hob eine Augenbraue.
“Ehe du dich dem Sarkasmus ergibst”, sagte Severn zu ihr und fasste ihre Hand fester, “ich habe keine Ahnung, worauf du gerade zeigst.”
“Es ist ein Zeichen. Ziemlich sicher Hochbarrani. Und
genau da
, Severn.”
Der Blick, den Severn Andellen zuwarf, hätte jeden anderen Mann zurückweichen lassen. Rennend. Andellen bewegte sich nicht. Kaylin war zu beschäftigt damit, herauszufinden, warum Severn so wütend starrte.
“Andellen? Was bedeutet es?”
“Es bedeutet ‘Wahl’“, antwortete er mit vollkommen neutraler Stimme.
“Du bist schon einmal hier gewesen.”
Er nickte. “Jeder Barrani, der den Titel ‘Lord’ erlangen möchte, muss einmal hierherkommen. Normalerweise kommen sie allein”, fügte er leise hinzu, “aber ob sie allein zum Turm kommen oder nicht, betreten müssen sie ihn in jedem Fall allein.”
“Das ist wichtig”, sagte Kaylin zu Severn.
“Wie viele kommen wieder heraus?”, fragte Severn und ignorierte sie.
“Die, denen das Recht des Titels verliehen wurde”, war die ruhige Antwort.
Severn wendete sich an Samaran. Aber Samaran schwieg auf eine Art, die sagte: “Störe mich und sterbe.”
“Wahl”, sagte Kaylin tonlos. “Ist das alles?”
“Auf Elantranisch hat es eine andere Bedeutung und mehr Worte.”
“Und die wären?”
“An deiner Wahl soll man dich erkennen.”
“Welche Wahl?”
Er lächelte. “Das ist die Frage, die der Turm stellt, Kaylin. Unter anderen.” Er senkte seine Hände und drehte sich um. “Das ist nichts für dich”, erklärte er ihr.
Doch das Wort an der Wand schien schwach zu glühen, und das Licht in den Wasserläufen war blau. “Ich glaube – doch. Weil ich die Rune sehen kann.” Sie drehte sich zu Samaran um, und selbst seine düstere Miene reichte nicht aus, um sie zum Schweigen zu bringen. “Kannst du sie sehen?”
Er schüttelte knapp den Kopf.
“Kaylin.” Sie drehte sich wieder dem ausgestoßenen Lord zu, der die Hohen Hallen einst sein Zuhause genannt hatte. Sie hatte geglaubt, Andellen wäre verärgert. Er war es nicht. Seine Augen waren grün mit braunen Flecken. “Falls du dich entschließt, dich hier umzusehen, wirst du mit Sicherheit den Abendkreis versäumen.”
Das war aller Ansporn, den sie noch gebraucht hatte.
“Du kannst sie nicht verlassen”, sagte Severn, “auf Befehl des Kastenlords kannst du sie nicht verlassen.”
Andellen begegnete Severns Blick und nickte. “So ist sein Gesetz, so verlangt er es.”
“Er kann nicht mitkommen”, mischte Kaylin sich ein.
“Das ist mir auch klar”, fuhr Severn sie an. “Und ich glaube, es wäre politisch nicht ratsam, den Abendkreis zu verpassen.”
“Severn, wenn ich meinen Mund aufmache, während ich da bin, wird dir dein ‘nicht ratsam’ wie ein Geniestreich erscheinen.”
Er fuhr mit den Händen durch sein Haar und drehte sich fort.
“Ich weiß, dass du das Gesicht verziehst”, sagte sie zu ihm. Sie zögerte unter dem Torbogen.
“Ich bin nicht Andellen”, sagte Severn zu ihr. “Wo du hingehst, gehe auch ich hin.” Er sah zurück zu den Barrani.
Der
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