Kaylin und das Geheimnis des Turms
Schmerzen zu unterdrücken. Sie ging schnell auf ihn zu, und dabei verflog ihr Ärger. “Hast du Schmerzen?”
Er hob eine Hand, wie als Spiegelbild ihrer eigenen Bewegung, und fasste ihr Handgelenk. “Ich bin nicht verletzt”, sagte er zu ihr, “lass es.”
“Was hat der Kastenlord gemacht?”
“Nichts, Kaylin.”
“Aber …”
“Nichts. Du wolltest reden. Rede.”
“Eigentlich wollte ich, dass du redest.”
Er hob eine Augenbraue.
“Über Barranimagie.”
“Du hättest deinen Wachmann fragen können.”
“Oder die Wand … und die wäre hilfreicher gewesen.”
Der Funken eines vertrauten Lächelns glomm in seinen Augen auf und verscheuchte etwas von der Verkniffenheit aus seinem Gesicht. Nur die Furchen waren noch da, wie Landzeichen, die sie fast erkennen, aber nicht berühren konnte. “Die Barrani sind sehr auf Form bedacht. Wenn du die Formalitäten umgehen willst, musst du sie lernen. Aber bei den Göttern”, sprach er weiter, “sie machen es sich zur Lebensaufgabe. Sonst würde man sie noch ehrlich nennen.” Er hielt inne. “Sie sagen nie ganz die Wahrheit. Versuch daran zu denken.”
“Es gibt zu vieles, das ich nicht verstehe”, beklagte sie sich bei Severn, als hätte er nicht gesprochen.
Er nickte. Er wusste sehr gut, dass sie nicht von den Barrani sprach, auch wenn die Aussage ebenfalls zuträfe.
“Und zu vieles, das ich nicht erklären kann. Jedenfalls nicht, wenn mir mein Leben lieb ist.”
“Das ist dann der Barrani-Code.”
“Code?”
“Sie mögen Geheimnisse. Normalerweise hüten sie sie, indem sie alle Mitwisser umbringen. Ich nehme an, dass du als wertvoll erachtet wirst.” Seine Stimme war unbeschwert. Nichts von seinem Tonfall spiegelte sich in seinem Gesicht wider. “Was kannst du mir sagen?”
“Es hat irgendwas mit dem Arkanum zu tun.”
Severn zuckte mit den Schultern. “Wenn Magie im Spiel ist, hat es das meistens.”
“Warum hat der Kaiser es nicht einfach zerstört?”
“Das hat der Wolflord sich oft gefragt.”
“Du … du hast Arkanisten gejagt?”
Er zuckte mit den Schultern. “Ich habe viele Dinge gejagt.”
“Wie hast du das überlebt?”
“Glück.”
“Färbt das ab?”
Er schüttelte den Kopf, und in seine Mundwinkel stahl sich ein Lächeln. Es war ihr schon immer gelungen, ihm ein Lächeln abzuringen.
Ihre Arme taten weh. Sie senkte sie und fragte sich, was sie Schweres gehoben hatte. Sein Stirnrunzeln konnte sie eher erahnen als sehen. Seine Frage war vollkommen stumm. Sie schüttelte den Kopf.
“Hast du das Arkanum bei deinen Ermittlungen, was die auch sein mögen, im Verdacht?”
Sie schnaubte. “Ich würde Lord Evarrim jede Straftat zutrauen, an die ich mich spontan erinnern kann – und auch alle, die ich nachschlagen müsste.”
“Er ist nicht das Arkanum.”
“Nein. Er ist ein verdammter Lord der Barrani, und er ist hier. Und”, ergänzte sie noch leise, “er will nicht, dass
ich
hier bin.”
“Es gibt viele Barrani, die deine Anwesenheit hier als Beleidigung empfinden.”
“Er ist am lautesten.”
“Er war … mutig.”
“Was normalerweise heißt, er ist sich seiner Macht sicher.”
Severn nickte. Aber etwas an seinem Gesichtsaudruck stimmte nicht.
“Du glaubst nicht, dass das Arkanum etwas mit der Sache zu tun hat.”
“Oh, das habe ich nicht gesagt. Aber ich halte Lord Evarrim für klüger und weniger offensichtlich. Er ist an
dir
interessiert, aber sein Interesse ist banaler.”
“Banal?”
“Du hast Macht. Das weiß er. Er weiß nur nicht, wie viel und wie man sie benutzen kann.”
Sie atmete tief durch und er begann, langsam zu erzählen: “Es hat einen Unfall im Arkanum gegeben. Ich glaube, er ist ungefähr um die Zeit passiert, als der Lord der Westmarsche aufgewacht ist.”
“Rückstoß?”
“Vielleicht.” Er hatte im Unterricht wirklich aufgepasst. Da es jetzt nützlich war, versuchte sie es ihm nicht übel zu nehmen.
“Um welche Zeit genau ist der Zwischenfall passiert?”
“Weiß ich nicht.”
Er fuhr mit den Händen durch sein Haar. “Kaylin …”
“Ich dachte, die zwei Dinge hängen zusammen. Ich habe damals nicht
auf
die Zeit geachtet. Und danach … na ja, es hat nicht viel Danach gegeben.”
“Ich kann wahrscheinlich auf das Archiv zugreifen”, überlegte er schließlich, “aber nicht von hier aus. Oh, ich
kann
schon, aber alles, worauf ich zugreife, wird mitgelesen.”
Sie nickte. “Irgendetwas an der Sache sehe ich noch nicht
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