Kaylin und das Reich des Schattens
lange warten können.”
“Ich glaube, Hauptmann Kassan hat das
recht
deutlich gemacht. Und in Worten, die beim zehnten Mal ein wenig weniger freundlich waren. Aber da das Arkanum vom Kaiser persönlich die Anfrage erhalten hat, mit den Lords der Gesetze zusammenzuarbeiten, hat Lord Evarrim allen Versuchen, ihn zum Gehen zu bewegen, widerstanden. Er ist auch nicht allein”, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu.
Nein, das konnte Kaylin sehen. Teela und Tain, beide in makellosen Falkenuniformen, klemmten fast unter seinen Achseln. Sie schwangen vielleicht nicht ihre Knüppel nach ihm, aber das mussten sie auch gar nicht. Sie hatte die beiden seit Jahren nicht so barranisch aussehend erlebt. Seit genau drei Jahren. Wenn man ihren abgebrochenen Besuch bei den Kaufleuten nicht zählte.
“Sie hat nicht von den Falken gesprochen”, flüsterte Severn, als könne er ihre Gedanken lesen.
Nein. Sie hatte von seinen vier Leibwachen gesprochen. “Vielleicht könnten wir die Sache später erledigen?”
Aber Marcus hatte sie bereits gesehen, und wenn er das hatte, dann jede andere Person im Raum ebenfalls, obwohl sie alle scheinbar ruhig ihren eigenen Aufgaben nachgingen. Kaylin richtete sich auf. “Lass nicht zu, dass die Barrani Catti anfassen”, raunte sie Severn aus dem Mundwinkel zu.
“Ich bin dir weit voraus.”
Daraufhin drehte sie sich doch zu ihm um. Es war, als wären sieben Jahre einfach nicht vergangen. Fast wäre es zu viel gewesen. Er sah sie an, hielt ihren Blick mit seinem fest und bot ihr nach einem Augenblick ein schiefes Grinsen, das seine Augen nie berührte. Es war keine Entschuldigung, das wussten sie beide. Nichts, was er tat, konnte ihn entschuldigen.
Aber er hatte Catti nicht umgebracht.
Und er hätte die Gelegenheit gehabt.
All die Warums, die sie sich geweigert hatte, ihn zu fragen, und zu denen sie ihm die Antworten verweigert hatte, sammelten sich hinter ihren Lippen. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte zu schlucken und blinzelte ein paar Mal.
“Später”, sagte er. Nicht sanft, aber ruhig.
Zum ersten Mal, seit sie ihm im Falkenturm gegenübergestanden hatte, wollte sie dieses
Später
fast selbst. Sie berührte Cattis Gesicht, fast so wie Clint ihr Haar berührt hatte, aber aus einem anderen Grund. Und dann wendete sie sich Marcus Kassan zu.
“Nicht in der Uniform, wie ich sehe”, sagte er knapp.
“Nein, Sir.”
“Komm mir nicht mit ‘Sir’”, fuhr er sie an. Er hatte wirklich schlechte Laune.
“Ja – ähm. Ja.”
“Handred.”
Severn konnte nicht salutieren, ohne Catti fallen zu lassen. Aber er richtete sich auf. “Ja, Sir.”
“Es gab
strikte
Anweisungen, wie mit dem suspendierten Falken in eurer Gesellschaft umzugehen ist.”
“Ja, Sir.”
“Beinhaltete eine von ihnen ihre Anwesenheit?”
“Nein, Sir.”
“Entgegen meinem Ratschlag wurde deine Suspendierung aufgehoben.”
“Ja, Sir.”
Marcus fletschte seine Zähne. Severn, der noch neu bei den Falken war, reagierte nicht mit der notwendigen Gehorsamshaltung, seine Kehle zu entblößen. Doch Kaylin kannte ihn gut genug. Selbst wenn er Jahre bei den Falken gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich nicht getan. Die Kolonien steckten ihm in den Knochen, und er hatte sie auf eine Art erlebt, von der sie jetzt zugeben konnte, dass sie es nicht hatte.
Wegen ihm. Als er sie das letzte Mal so getragen hatte, wie er jetzt Catti hielt, war er viel schwächer gewesen.
“Hauptmann”, sagte Tiamaris in fast genau dem gleichen Tonfall, mit dem er das Wort Kinder aussprach. “Ich benötigte die Hilfe von Offizier Handred bei meiner Arbeit in der Kolonie Nightshade für Lord Grammayre. Severn untersteht mir, und ich übernehme die volle Verantwortung für seine Anwesenheit dort.”
“Und ihre?”
“Sie war eine Zivilperson, die unseres Schutzes bedurfte”, antwortete er, mit so einer perfekten unbewegten Mine, dass Kaylin sich selbst nicht sicher war, ob sie ihm glauben sollte. Und sie wusste es besser.
“Dann ist das Kind Catti von den Findelhallen?”
“Kaylin Neya hat sie identifiziert”, antwortete Tiamaris. “Ich hatte keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.”
“Und wo wurde sie gefunden?”
“In Nightshade.”
“Der Lord –”
“War nicht anwesend. Er hatte nichts mit ihrem Verschwinden zu tun”, fügte Tiamaris noch hinzu.
Kaylin hasste diese Gespräche. Sie verstand nicht, warum die Leute immer noch redeten, wenn alles, was sie sagten, für alle Beteiligten bereits
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