Kaylin und das Reich des Schattens
glühte.
Er hielt ihn einen Augenblick in der offenen Handfläche. “Hierin sind alle Informationen enthalten, die die Falken bisher zu eurer Mission sammeln konnten. Einiges wurde von den Tha’alani in den Stein gespeist, anderes von Wölfen und Schwertern. Ihr werdet das alles studieren”, fügte er leise hinzu, “und es wird euch alles verraten, was ihr wissen müsst.
Wenn ihr noch Fragen habt, behaltet sie für euch. Ihr werdet die Antworten selbst finden müssen. Ihr werdet niemandem von dem berichten, was ihr im Edelstein gesehen habt. Es ist alles durch einen Zauber gebunden, der diesen Befehl vollstreckt.”
Er zögerte einen Augenblick, hob dann seine Hand und machte eine rasche Bewegung. Kaylin fiel ein kurzes Stück Richtung Boden und stolperte, ehe sie sich fangen und aufrichten konnte.
“Kaylin.”
Sie drehte sich um. Sah, dass er seine offene Hand ausgestreckt hatte und ihr selbst den Edelstein darin übergeben wollte. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es nicht weiser wäre, einen anderen Beruf zu wählen.
Aber ihre Vergangenheit würde ihr durch die Tür hinaus folgen; hier lag sie wenigstens verborgen. Ohne ein Wort streckte sie ihre Hand aus, und er ließ den Kristall in die bebende Höhlung ihrer Handfläche fallen. Blaues Licht brannte sich in ihre Augen, und sie schloss die Finger instinktiv um den Stein.
Sie war selbst überrascht, dass sie ihn nicht von sich schleuderte.
“Interessant”, sagte der Falkenlord leise. Sie glaubte, er würde noch mehr sagen, aber anscheinend beanspruchte das Treffen mit den Lords der Gesetze seine volle Aufmerksamkeit. “Ihr seid entlassen”, sagte er ruhig. “Ihr könnt mit Marcus sprechen. Sagt ihm, dass er euch vernünftig ausstatten soll. Erinnert ihn auch daran, dass die Ausrüstung nicht verzeichnet wird.
Das ist alles.”
2. KAPITEL
V on der Art des Schweigens her zu urteilen, das von allumfassend zu grabesgleich übergegangen war, hatte Eisenbeißer seine gute Laune, wie auch immer die aussehen mochte, noch nicht zurückerlangt. Die Mitarbeiter, die sonst an den Schreibtischen in seinem Blickfeld saßen, schienen sich eine lange Mittagspause zu gönnen. Kaylins Magen hätte sich ihnen wirklich gerne angeschlossen. Entweder das, oder er wäre das Frühstück, das sie nicht gegessen hatte, gerne losgeworden. Sie konnte sich nicht entscheiden.
Severn. Hier. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, was etwas unglücklich war, wenn man bedachte, dass sie in einer von ihnen etwas mit scharfen Kanten hielt. Wenn es auch keine Jahre her war, seit sie das letzte Mal jemanden wirklich gerne hatte umbringen wollen – und seien wir ehrlich, sie war kein Engel, – es war Jahre her, seit sie es das letzte Mal
versucht
hatte. Ihr Timing war, wie immer, tadellos.
Marcus sah von seinem Papierkram auf. Sie fragte sich, welches arme Opfer ihm die Arbeit gebracht hatte. Sie beneidete es nicht.
“Und?”, knurrte er.
Sie zuckte mit den Schultern. Das war nicht ungefährlich, wenn man seine Laune bedachte – aber sie hatte selber ihre Launen. “Wir brauchen ein sicheres Zimmer”, sagte sie ihm und fuchtelte mit dem Kristall, den sie immer noch fest umklammert hielt.
Er hob seine Augenbrauen, oder vielmehr das Fell über seinen Augen. Als seine Stirn sich wieder geglättet hatte, sah er genervt aus. Also nichts Neues. “Westzimmer”, sagte er knapp. “Und die zwei?”
“Frag den Falkenlord.”
Seine Lippen legten gefletschte Zähne frei, und sie beschloss, dass seine Laune wohl doch schlechter war als ihre. “Severn”, sagte sie knapp. “Ehemals von den Wölfen.”
“Hier?”
“Ich sagte ehemals.”
“Und der andere?”
“Tiamaris. Er ist ein …”
Das leise Knurren wurde tiefer. Der Leontiner glitt um seinen Schreibtisch herum. Der Papierkram blieb liegen.
Tiamaris ließ sich nichts anmerken. Er stand so selbstbewusst da, dass Kaylin sich fragte, ob ihn überhaupt irgendwas je aus der Ruhe brachte.
“Kastenname?”, fragte der Leontiner.
“Das geht Euch nichts an, Hauptmann Kassan”, antwortete Tiamaris. Seine Stimme verriet keine Gemütsregung. Kaylin war beeindruckt. Nicht davon, dass er Marcus’ Rang kannte – den konnte jeder an der Uniform ablesen – sondern, dass er seinen Rudelnamen kannte.
Marcus kam näher und schien dabei immer größer zu werden – zumindest sein Fell tat das. Es war die Art der Leontiner, wenn sie sich bedroht fühlten. Das geschah normalerweise nur in der Gegenwart seiner Frauen oder
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