Kaylin und das Reich des Schattens
besser gefiel, wenn er es nicht tat. Seine Zähne waren nicht wie normale Zähne. Zwar fehlten ihm die ausgeprägten Eckzähne der Leontiner, aber sie schienen zu funkeln. So wie seine Augen es taten.
Sie drückte die Tür auf und betrat das Zimmer.
“Severn.” Sie hatte seinen Namen auf ihrer Zunge, ehe sie es verhindern konnte. “Setz dich. Tiamaris?”
“Kaylin?”
“Wir können nicht fortfahren, ehe die Tür nicht geschlossen ist – der Stein ist versiegelt.”
“Ah.” Er trat über die Schwelle in den kleinen, fensterlosen Raum, der wirkte wie eine Gefängniszelle. An den falschen Tagen war er das auch. Und die Gefangenen darin? Sie schauderte.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Severn ließ sich auf einen der Stühle fallen, als wäre er in seinen eigenen Räumen. Tiamaris setzte sich steif hin, als wäre er nicht daran gewöhnt, sich in der Mitte zu beugen.
Und Kaylin stand zwischen ihnen wie zwischen einem Fels und einer Mauer. Sie sah zu Severn. Sah sich die vertrauten Narben an, die sie nie vergessen hatte, und betrachtete auch die neueren.
Sie wollte ihn umbringen.
Und er wusste es. Sein Lächeln erstarrte in seinem Gesicht, bis es eine Maske war, eine Fassade. Dahinter waren seine blauen Augen wachsam. Seine Hände hatte er unter die Tischplatte gesteckt, die die einzige ebene Oberfläche außer dem Boden war.
“Bist du wirklich ein Falke?”, fragte er beiläufig.
“Bist du wirklich ein Wolf?”
Sie starrten einander einen Herzschlag zu lange an.
“Kaylin”, sagte Tiamaris ruhig. “Ich glaube, du hast hier noch etwas zu erledigen.”
“Ich bin ein Falke”, antwortete sie.
“Warum?”
“Warum?” Ihre Finger schlossen sich um den Kristall. “Ja”, sagte sie an Tiamaris gewandt. “Arbeit. Wie immer.”
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie Severn jede Frage beantwortet hätte. Wirklich jede. Aber dieses Mädchen war sie jetzt nicht mehr. Sie hatte nicht den Wunsch, ihr Leben mit ihm zu teilen. Stattdessen blickte sie in den Kristall. Sie musste gezögert haben, denn Tiamaris hob eine Augenbraue.
“Du bist mit dieser Art Steinen doch vertraut?”
“Ich habe sie schon gesehen”, sagte sie kalt.
“Aber du hast noch nie einen benutzt.”
Sie schob sich eine Haarsträhne aus den Augen, die es nicht gab, als würde sie Zeit schinden. Ihre frühen Jahre in den Straßen der Kolonien hatten sie gelehrt, dass Lügen ihren eigenen Wert hatten. Ihre formenden Jahre bei den Falken hatten ihr allerdings gezeigt, dass sie meistens durchsichtig waren, wenn sie von ihr kamen. Sie ließ sich Zeit, ehe sie antwortete. “Nein. Noch nie.”
“Wenn du mir gestatten würdest –”
“Nein.”
Noch eine gehobene Braue. “Nein?”
Das Wort klang wie eine Drohung.
“Nein”, sagte sie, nachdem sie sich gefasst hatte. “Der Falkenlord hat den Stein mir gegeben. Wenn du es versuchst und er versiegelt ist, dann finden wir noch nach Wochen Stücke von dir in unseren Haaren.”
Sein Lächeln war kein Trost. Er streckte seine Hand aus. “Ich habe den Vorteil”, sagte er leise, “dass ich weiß,
wie
man einen Kristall entsiegelt.”
Ihre Pause, musste sie selbst zugeben, diente nur dazu, Zeit zu schinden. “Warum schickt er einen Drachen in die Kolonien?”
Tiamaris zuckte mit den Schultern. “Die Frage musst du ihm selbst stellen. Ich fürchte allerdings, er wird dir die Antwort schuldig bleiben.” Er kniff die Augen zusammen, bis das Gold zu einem brennenden Rot geworden war. “Ich gestehe, ich bin ebenfalls neugierig. Warum hat er sich entschieden, ein Mädchen ohne Erfahrung zu schicken?”
“An Erfahrung fehlt es mir nicht”, fuhr sie ihn an. “Ich bin seit sieben Jahren bei den Falken.”
“Du bist bei den Falken”, entgegnete er, “seit du dreizehn Jahre alt warst. Laut dem Brauch der Kasten warst du damals noch ein Kind. Du hast erst vor zwei Jahren das Erwachsenenalter erreicht. Nach den Regeln des Gesetzes bist du also seit zwei Jahren ein Falke.”
“Die Regeln der Kasten”, fauchte sie, “gelten
für
die Kasten.
Ich
bin in den Kolonien aufgewachsen. Alter hat dort eine andere Bedeutung.”
“Dann”, sagte Tiamaris und streckte seine Hand auf der Tischplatte aus, “stimmt es also.”
Sie sah ihn wieder an.
Was weißt du noch über mich?
Was nicht wirklich die wichtige Frage war.
Und warum?
Das war sie. “Du bist seit einem Tag ein Falke, wenn ich mich nicht irre.”
“Zwei”, antwortete er.
“Es braucht mehr als zwei Tage, um ein Falke
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