Keeva McCullen 6 - Der Wiedergänger (German Edition)
seinem Schreibtisch geholt (Robert hatte schon gar nicht mehr gewusst, dass der Schlüssel dort aufbewahrt worden ist), war in das Zimmer gegangen und erst nach Stunden wieder herausgekommen.
Auch gestern und heute hatte er sich dorthin für viele Stunden zurückgezogen. Robert hatte ihn dabei in Ruhe gelassen. Er muss mit seiner Trauer alleine fertig werden, hatte er gedacht - und war sich dabei schrecklich feige vorgekommen.
Jetzt klopfte er leise an die Tür und wartete. Aus dem Zimmer war kein Laut zu vernehmen. Als auch nach einem zweiten, deutlich lauteren Klopfen keine Reaktion erfolgte, öffnete Robert kurzerhand die Tür und trat ein.
Liam saß zusammengesunken auf einem Stuhl am Fenster, sein Blick ging nach draußen, über die Dächer der Stadt. Er drehte sich nicht um, als sein Schwiegervater in das Zimmer trat, aber Robert konnte ein leises Seufzen hören.
Neugierig sah der alte Mann sich um. So viele Jahre war dieses Zimmer unberührt geblieben und trotz der Morgensonne, die durch die schmutzigen Fenster drang, wirkte es düster und leblos. Eine dicke Staubschicht lag auf dem ordentlich gemachten Bett und den verschlossenen Schränken. In ihnen lagen noch alle Spielsachen und Kleiderstücke von Gabriel, das wusste Robert. Niemand hatte es damals gewagt, etwas von hier zu entfernen. Es war schon schlimm genug gewesen, die Spuren von Rachel - Roberts Tochter und Liams Ehefrau - aus dem Haus zu tilgen …
Robert hatte sich damals gefragt, warum Liam zwar die Besitztümer seiner verstorbenen Ehefrau nach und nach weggeräumt hatte, das Zimmer seines Sohnes jedoch unberührt gelassen hatte. Weil er den doppelten Verlust nicht ertragen konnte, hatte Robert damals geglaubt. Jetzt wusste er es besser: Weil Gabriel jederzeit wiederkommen konnte, Rachel jedoch nicht …
Langsam ging er zu seinem Schwiegersohn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Eine ganze Weile schwiegen beide, dann räusperte sich Liam.
„Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll“, begann er mit rauer Stimme.
Robert zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.
„Wegen Gabriel und Keeva?“, fragte er.
Liam nickte.
„All die Jahre habe ich mich zumindest der Hoffnung hingeben können, dass mein Sohn noch am Leben ist. Und es auch bleibt, solange ich mich an die Abmachung halte“, sagte er.
„Dämonen sind allerdings nicht gerade dafür berühmt, sich ihrerseits auch an Abmachungen zu halten“, gab Robert zu bedenken.
Liam warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
„Das ist mir leider auch klar“, sagte er. „Und im tiefsten meines Inneren gab es auch immer diese verräterische Stimme, die mir zugeflüstert hat, ich solle mir lieber wünschen, mein Sohn wäre tot. Statt in der Hand dieses Monsters.“ Eine Träne lief über sein gramvolles Gesicht und fast trotzig wischte er sie weg. „Aber solange ich keinen Fehler von meiner Seite her mache - so redete ich mir ein - wäre alles noch in Ordnung. Gabriel ginge es gut und vielleicht käme er ja irgendwann zu uns zurück. Damit konnte ich dieses böse Flüstern zum Schweigen bringen. Aber jetzt ...“
Er zuckte hilflos mit den Schultern.
„Jetzt bin ich hin und her gerissen“, fuhr er fort. „Einerseits bin ich so stolz auf Keeva, auf ihre Fähigkeiten, auf ihren eisernen Willen. Sie wäre eine großartige Dämonenjägerin, davon bin ich überzeugt.“ Er sah seinen Schwiegervater an. „Aber darf ich das überhaupt sein? Stolz auf meine Tochter, wenn diese durch ihr Handeln - wenn auch unabsichtlich - das Leben ihres eigenen Bruders aufs Spiel setzt?“
Jetzt oder nie, dachte Robert Paddock. Nun ist die Gelegenheit da, um ihm die mögliche Wahrheit über seinen Sohn, meinen Enkel, mitzuteilen.
„Da ist noch etwas, was du wissen solltest, ehe du eine Entscheidung triffst“, sagte er schließlich.
Liam sah ihn aufmerksam an.
Robert holte tief Luft und deutete vage nach unten, in Richtung des Telefons im Erdgeschoss.
„Etwas, was ich gerade eben erfahren habe, von Theobald Truax, der ehemaligen rechten Hand des Erzdämons. Es gibt da einige Gerüchte ...“
Er legte seinem Schwiegersohn eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Dann begann er zu erzählen ...
*
Liekk-Baoth saß in seiner ungeliebten Menschengestalt im Zug nach London und miefte vor sich hin. Die Kleidungsstücke von Rosies verstorbenem Ehemann strömten einen derart muffigen Geruch aus, dass bereits zwei Mal andere Fahrgäste, die in sein Abteil gekommen waren,
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