Keeva McCullen 6 - Der Wiedergänger (German Edition)
klopfenden Herzen gewesen war, wäre ihm die Idylle dieses Ortes aufgefallen. Er bestand aus einer Handvoll Häuser, die wie zufällig verstreut in einem sanft geschwungenen Tal lagen - alle aus grauem Stein gebaut, mit dunklem Schiefer gedeckt und mit selten mehr als einem Stockwerk. Die niedrige Bauweise der Häuser dieser Gegend war beabsichtigt. Sie schmiegten sich an den Boden, um Stürmen und eisigen Wintern zu trotzen.
Jetzt aber war es Sommer. In den Gärten der Ansiedlung blühten die verschiedensten Gräser und Kräuter, und ein betörender Duft lag in der Luft. Das Wesen interessierte sich zwar schon lange nicht mehr für solche Dinge, doch trotzdem liebte es diese Jahreszeit ebenfalls. Wenngleich auch aus einem gänzlich anderen Grund: offene Fenster.
Im Winter waren diese nämlich - natürlich - geschlossen, nachts oft noch zusätzlich mit Fensterläden verrammelt. Das machte es schwer bis unmöglich, einem der Bewohner die Lebensenergie abzuzapfen. Der Winter war somit auch für das Wesen hart, eine Zeit des Hungers und der Entbehrung - doch im Sommer wurde es dafür ausreichend entschädigt … wenn das Problem mit der immer dünner werdenden Besiedelung nicht wäre.
Zum wiederholten Mal verscheuchte das Wesen diesen unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf. Es wollte sich lieber auf seine unmittelbar bevorstehende Mahlzeit freuen, denn sein Ziel lag gleich vor ihm, auf der Rückseite des nächsten Hauses.
Als das Wesen um die Ecke schlurfte, sah es, dass auch heute die Fenster wieder weit geöffnet waren. So etwas wie ein Grinsen stahl sich über sein zerstörtes Gesicht. Es schlich näher, kauerte sich direkt unter die dunkle Fensteröffnung, legte den Kopf weit in den Nacken, schloss die Augen und konzentrierte sich. Sein Geist - oder das, was davon übrig war - sondierte, fand … und langsam begann die geraubte Lebensenergie zu fließen.
Endlich ließ der grässliche Schmerz in seinem Inneren etwas nach. Mit einem leisen Bedauern nahm das Wesen zur Kenntnis, dass seine Quelle nur noch sehr wenig dieses wertvollen Saftes führte … sie würde bald versiegen, wahrscheinlich sogar noch diese Nacht.
Das Wesen seufzte und wurde kurzzeitig von seinem Mahl abgelenkt. Es würde sich morgen eine neue Quelle suchen müssen. Es wusste, nur zwei Häuser weiter gab es ein krankes Mädchen, das schwach genug sein müsste, um ihm als neue Quelle dienen zu können. Und weiter hinten lebte noch ein ziemlich alter Mann - aber danach?
Es schüttelte sich. Sein Hunger wollte gestillt sein, hier und jetzt. Und über das Morgen konnte es sich … nun ja … morgen Gedanken machen. Es fletschte die Zähne zu einer Grimasse und seine halb verweste Zunge strich über den Rest seiner Unterlippe. Manchmal kam es vor, dass es so etwas wie Mitleid mit seinen Opfern fühlte - wenn auch nur selten und immer nur dann, wenn es sich gerade gesättigt hatte. Niemals jedoch in solchen Momenten wie jetzt - niemals, wenn die Gier es beherrschte.
Das Wesen hob seinen linken Arm zum Mund und begann, sanft an der Kante seiner Hand zu nagen. Erneut konzentrierte es sich auf die Quelle auf der anderen Seite der Mauer und ließ die noch übrige Lebensenergie zu sich fließen - schnell und immer schneller.
Aus dem Zimmer war noch minutenlang das Geräusch von mühseligem, rasselndem Atem zu vernehmen - doch schließlich, als das Wesen vor dem Fenster sich endlich gesättigt hatte und lautlos zurück in der Dunkelheit verschwand, erklang ein leises Seufzen … und dann nichts mehr.
*
James Morgan fiel erst auf, wie erschreckend winzig die Tote war, als die beiden Angestellten des örtlichen Leichenbestatters sie, zugedeckt und auf einer Bahre liegend, an ihm vorbei aus dem Haus trugen.
Sicher, die Frau war immer schon eine sehr zierliche Person gewesen, das hohe Alter, das zu erreichen sie das Glück hatte, hatte sie zusätzlich ausgezehrt und gebeugt - aber die Umrisse unter dem weißen Leichentuch erinnerten eher an die eines Kindes, denn an die einer erwachsenen Frau …
„Wenigstens ist sie im Schlaf gestorben“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. „Und so ganz unerwartet kam es ja nun auch nicht. Siebenundachtzig ist ein stattliches Alter ...“
James drehte sich zu der Person um, der die Stimme gehörte. Es handelte sich um die Tochter der Toten - und ihren gefassten Worte zum Trotz war ihr die Trauer um die verstorbene Mutter deutlich anzusehen.
„Siebenundachtzig ist in der Tat ein hohes Alter“,
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