Kehraus fuer eine Leiche
weiß ich, dass mir Marcel deren Erkenntnisse relativ spät und dann nur so bröckchenweise zuwerfen wird, wie wir Linus jetzt die welkenden Häppchen.
5_NIEDERSCHLÄGE
Ich bin zu unruhig, um in der Einkehr auszuharren. Außerdem muss ich endlich meine Adoptivhühner besichtigen und bezahlen. Bei Gudrun, David und Hein weiß ich Küche und Gastraum in kompetenten Händen. Jupp verspricht, die defekte Klospülung in der Damentoilette zu reparieren, ehe er sich zum Bäumeschlagen in den Wald bei Frauenkron aufmacht.
Normalerweise würde ich wie jeder Eifeler die paar Hundert Meter im Auto zurücklegen, aber da mein Fahrzeug nach Belgien verschleppt worden ist, muss ich notgedrungen zu Fuß gehen.
»Hol Linus mit«, schlägt Gudrun vor. »Nach diesem Festmahl braucht er Auslauf.«
»Auf dem Gnadenhof?«, frage ich zweifelnd. »Damit Hühner und Gänse einen Herzinfarkt kriegen und ihn die anderen Hunde zerfleischen?«
»Ich gehe gleich mit Linus«, bietet sich David an.
»Lieber nicht zu weit«, empfiehlt Gudrun und nickt zum Fenster hin. »Es sieht ganz nach Regen aus.«
Das schlechte Wetter kommt meistens aus Westen, und in der Tat haben sich über Belgien bereits schwarze Wolken zusammengezogen. Ich hätte Handschuhe anziehen sollen. Um meine Haut vor meinen Fingernägeln zu schützen, falls das einzahnige Krokodil wieder juckend aufmuckt.
Als ich an der Leitstelle des Kampfmittelräumdiensts vorbeikomme, fängt es bereits an zu tröpfeln. Ich eile weiter, obwohl ich den Geländewagen mit Kölner Kennzeichen neben der Baracke aus den Augenwinkeln registriere. Dieses Auto habe ich hier noch nie gesehen. Eigentlich ein Grund, es sich genauer anzuschauen. Nicht aus nachbarschaftlicher Neugier, sondern aus Notwehr. Den Behörden gegenüber. Die uns hier auf der Kehr für blöd halten und konsequent mit falschen Informationen füttern. Das hat nicht etwa mit den früheren Morden zu tun, sondern mit gefährlichen Altlasten aus der Kaiserzeit und dem Ersten Weltkrieg.
Wir sitzen hier wortwörtlich auf einem explosiven Erbe: Wo wir jetzt wohnen, ist vor neunzig Jahren die 1914 erbaute Munitionsfabrik Espagit in die Luft geflogen. Und nach dem Ersten Weltkrieg haben die Alliierten auf dem durch die Explosion ohnehin reichlich verseuchten Gelände jede Menge Giftgas entsorgt. Sprengstoff, Blau-, Grün- und Gelbkreuzgranaten, Pikrinsäure-Zünder und TNT vergifteten jahrzehntelang das Erdreich. Generationen von Kehrer Kindern haben in den Fabrikruinen mit Granaten gespielt und deren Eltern mit den überall herumliegenden gelblichen TNT-Klumpen ihre Herdfeuer entzündet. Schrotthändler haben ihren Reibach gemacht. Erst vor etwa zwanzig Jahren sah sich das Land Rheinland-Pfalz durch eine Anfrage der Grünen gezwungen, die gewaltige Rüstungsaltlast zu beichten. Es wurde eine Sanierung eingeleitet, aus Kostengründen aber nur halbherzig betrieben und schließlich im wahren Sinn des Wortes beerdigt: Auf den Granatenfriedhof legte man ein fünfzehn Hektar großes verzinktes Maschendrahtgeflecht, das Verbrecher abhalten sollte, mit Metalldetektoren in dem darunterliegenden Erdreich nach Sprenggeschossen zu wühlen. Man deckelte das Gewebe mit Lava und Erde ab, setzte Pflänzchen ein, zog Drainagegräben und lässt jetzt über dieser Zeitbombe der Natur freien Lauf.
Aktuelle Gefahr sei für uns gebannt, behaupten die Politiker, aber glauben können wir ihnen nicht. Zu viel ist in dieser Angelegenheit schon gelogen worden. Niemand bestreitet, dass die Giftgas-Technik aus dem Ersten Weltkrieg für Terroristen, zum Beispiel für solche aus der arabischen Welt, von Interesse sein könnte.
Bei Spaziergängen über das inzwischen wieder freigegebene frühere Verbotsgelände achten wir also auf Hinweise, ob die verseuchte Erde vielleicht schon zu brodeln beginnt, ob irgendeine verdächtige Gestalt dort mit einem Spaten im Schutzanzug unterwegs ist oder ob ein fremdes Auto herumsteht. Unzählige Giftgasgranaten und Sprengstoffreste verrotten unter unseren Füßen vor sich hin. Da empfiehlt sich eine gewisse Wachsamkeit.
»Das TNT kriecht schon wieder hoch«, meinte Hein neulich, als er von einem Gang über das Verbotsgelände zurückkam und von kahl gewordenen Stellen in der Bepflanzung berichtete. Jupp hatte vor einem Jahr zwei fremde Männer in die Flucht geschlagen, die sich in Camouflageklamotten an den Containern zu schaffen machten, in denen der Kampfmittelräumdienst die Granaten verwahrt, die in benachbarten
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