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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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dem ich mich rechtfertigen will. Trotz Ihres scharfen Vorgehens und trotzdem Sie sich aus einem Freunde in einen Gläubiger verwandelt hatten, damals, als Bordin ein Anerkenntnis für Sie von mir verlangte und so die edle Abmachung, die wir getroffen hatten, als wir uns die Hand drückten und unsere Tränen vereinigten, aufhob – trotzdem habe ich mir die Erinnerung an diesen Morgen bewahrt. Und um dieser Stunde willen bin ich hergekommen, um Ihnen zu sagen: Sie kennen das Unglück nicht, darum erheben Sie keine Anklage! Ich hatte nicht eine Stunde, nicht eine Sekunde frei, um Ihnen zu schreiben und zu antworten! Vielleicht wünschten Sie, daß ich käme, um Ihnen zu schmeicheln?... Ebensogut könnte man von einem Hasen, der auf der Flucht vor den Hunden und Jägern ermattet, verlangen, daß er sich in einer Lichtung ausruhen und Gras fressen soll! Ich habe Ihnen keine Eintrittskarte gesandt, nein; ich hatte nicht einmal so viele, um die Wünsche derjenigen, von denen mein Schicksal abhing, zu befriedigen. Ein Neuling beim Theater, wurde ich die Beute der Musiker, der Schauspieler, der Sänger, des Orchesters. Um abreisen und das, was meine Familie drüben braucht, kaufen zu können, habe ich die ›Peruaner‹ dem Direktor verkauft mit noch zwei andern Stücken, die ich verfaßt hatte. Ich reise nach Holland ohne einen Sou in der Tasche; ich werde mich unterwegs von Brot ernähren, bis ich Vlissingen erreicht habe. Meine Überfahrt ist bezahlt, das ist alles. Ohne das Mitleid meiner Wirtin, die Vertrauen zu mir hat, wäre ich genötigt gewesen, die Reise zu Fuß zu machen, mit dem Ränzel auf dem Rücken. Trotzdem Sie also an mir zweifeln, bleibt Ihnen doch meine volle Dankbarkeit erhalten, denn ohne Sie hätte ich meinen Schwiegervater und meine Frau nicht nach New York schicken können. Nein ›Herr‹ Alain, ich werde nicht vergessen, daß die hundert Louisdor, die Sie mir geliehen haben, heute eine Rente von fünfzehnhundert Franken bedeuten. ›Ich möchte Ihnen gern Glauben schenken, Mongenod‹, sagte ich, fast überzeugt durch den Ton, in dem er diese Erklärung vorgebracht hatte. ›Oh, du sagst nicht mehr ›Herr‹ zu mir‹, rief er lebhaft aus und blickte mich freundlich an. ›Weiß Gott, ich würde Frankreich mit weniger Bedauern verlassen, wenn ich hier einen Menschen zurückließe, in dessen Augen ich nicht ein halber Betrüger, ein Verschwender, ein Mann bin, der Illusionen nachjagt. Mitten in meinem Elend habe ich einen Engel lieben dürfen. Ein Mensch, der wahrhaft liebt, Alain, ist niemals ganz verächtlich...‹ Nach diesen Worten reichte ich ihm die Hand, er ergriff sie und drückte sie. ›Möge der Himmel dich beschützen!‹ sagte ich. ›Wir sind also immer noch Freunde?‹ fragte er. ›Jawohl‹, erwiderte ich. ›Man soll von mir nicht sagen, daß mein Spielkamerad und Jugendfreund mit meinem Zorn belastet nach Amerika gegangen ist!‹ Mongenod umarmte mich und stürzte zur Tür hinaus. Als ich einige Tage später Bordin begegnete und ihm dieses letzte Zusammentreffen erzählte, sagte er lächelnd: ›Ich wünschte, daß dies keine Theaterszene war!... Hat er nichts weiter von Ihnen verlangt?‹ ›Nein‹, antwortete ich. ›Er war auch bei mir, ich bin beinahe ebenso schwach gewesen wie Sie, und er hat von mir so viel erbeten, daß er unterwegs zu leben hätte. Na, wir werden ja sehen, was dabei herauskommen wird.‹ Diese Bemerkung Bordins ließ mich befürchten, daß ich in törichter Weise einer empfindsamen Regung nachgegeben hätte. ›Aber,‹ sagte ich mir, ›auch er, der Anwalt, hat ja ebenso gehandelt wie ich!‹ Ich halte es für überflüssig, Ihnen auseinanderzusetzen, auf welche Weise ich mein ganzes Vermögen verlor, ausgenommen meine andern hundert Louisdor, die ich ins Staatsschuldbuch eintragen ließ, als der Kurs der Renten schon so hoch gestiegen war, daß ich kaum fünfhundert Franken zum Leben hatte, als ich vierunddreißig Jahre alt war. Ich bekam dann auf Empfehlung Bordins eine Stelle bei dem Pfandleihamt in der Rue des Petits-Augustins mit achthundert Franken Gehalt. Ich mußte also sehr bescheiden leben. Ich mietete mir in der Rue des Marais im dritten Stock eine kleine Wohnung von zwei Zimmern und einer Kammer für zweihundertfünfzig Franken. Ich speiste in einer bürgerlichen Pension für vierzig Franken im Monat. Abends verfertigte ich Abschriften. Häßlich, wie ich war, und arm, mußte ich darauf verzichten, mich zu verheiraten.« Als er diese

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