Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Bemerkung, die der gute Alain über sich selbst mit bewundernswerter Resigniertheit machte, vernahm, entfuhr Gottfried eine Bewegung, die besser als eine Äußerung die Gleichheit ihres Geschicks bestätigte; der biedere Alte machte als Antwort auf diese sprechende Geste eine Pause und schien ein Wort von seinem Zuhörer zu erwarten.
    »Sie sind niemals geliebt worden?« fragte Gottfried.
    »Niemals!« entgegnete er, »ausgenommen von Frau de la Chanterie, die uns alle mit derselben Liebe umfaßt, die wir alle ihr entgegenbringen, einer Liebe, die ich eine himmlische nennen möchte ... Sie haben sich ja davon überzeugen können: wir leben ihr Leben, wie sie das unsere lebt; und wenn auch keine ›physischen‹, so sind doch unsere Glücksgefühle nicht weniger warm, denn unsere Existenz beruht allein auf dieser Empfindung unseres Herzens .. Was wollen Sie, mein Kind,« fuhr er fort, »wenn die Frauen unsere moralischen Vorzüge zu würdigen vermögen, haben sie mit der Außenwelt abgeschlossen und sind alt geworden ... Ich habe viel gelitten, glauben Sie mir! ...«
    »Ach, und ich desgleichen ...« sagte Gottfried.
    »Unter dem Kaiserreich«, nahm Alain seine Erzählung wieder auf und senkte den Kopf, »wurden die Zinsen nicht pünktlich bezahlt, man mußte damit rechnen, daß die Zahlungen eingestellt werden würden. Von 1802 bis 1814 verging keine einzige Woche, in der ich nicht Mongenod für meine Sorgen verantwortlich gemacht hätte. Ohne Mongenod, sagte ich mir, hätte ich mich verheiraten können. Ohne ihn hätte ich nicht unter Entbehrungen zu leiden brauchen. Manchmal aber sagte ich mir auch: Vielleicht wird der unglückliche Mann dort drüben vom Schicksal verfolgt! Im Jahre 1806, als ich an der Last des Lebens sehr schwer zu tragen hatte, schrieb ich ihm über Holland einen langen Brief. Ich erhielt keine Antwort und wartete drei Jahre, indem ich auf seine Antwort ständig meine Hoffnung setzte, die immer wieder getäuscht wurde. Endlich fand ich mich in mein Schicksal. Zu meinen fünfhundert Franken Rente, zu meinen zwölfhundert Franken Gehalt – es war aufgebessert worden – kam noch hinzu, daß ich Herrn Birotteau, dem Parfümhändler, die Bücher führte, was mir weitere fünfhundert Franken einbrachte. So konnte ich nicht nur existieren, sondern ich legte auch noch achthundert Franken jährlich beiseite. Zu Beginn des Jahres 1814 ließ ich neuntausend Franken Ersparnisse ins Staatsschuldbuch eintragen und hatte so sechzehnhundert Franken Rente für meine alten Tage sichergestellt. Ich bezog fünfzehnhundert Franken beim Pfandleihhause, sechshundert Franken für meine Buchführung, sechzehnhundert Franken Staatsrente, im ganzen dreitausendsiebenhundert Franken. Ich nahm mir eine Wohnung in der Rue de Seine und lebte nun etwas besser. Meine Stellung brachte mich in Beziehungen zu vielen Unglücklichen. Seit zwölf Jahren kannte ich besser als irgendein anderer das öffentliche Elend. Ein- oder zweimal konnte ich armen Leuten helfen. Ich empfand eine lebhafte Freude, wenn ich sah, daß unter zehn solchen sich ein bis zwei Familien wieder emporgearbeitet hatten. Ich kam auf den Gedanken, daß die wahre Wohltätigkeit nicht darin bestehen dürfe, den Leidenden Geld hinzuwerfen. Die Mildtätigkeit im gewöhnlichen Sinne schien mir häufig eine Art Prämie für das Verbrechen zu sein. Ich machte mich daran, diese Frage zu studieren. Ich war damals fünfzig Jahre alt, und mein Leben neigte seinem Ende zu. Wozu bin ich noch gut? fragte ich mich. Wem soll ich mein Vermögen hinterlassen? Wenn ich mein Heim reicher ausstatte, eine gute Köchin engagiere und ein bequemes gesichertes Leben führe, womit soll ich meine Zeit hinbringen? Elf Jahre Revolution und fünfzehn Jahre elenden Daseins hatten die kostbarste Zeit meines Lebens verschlungen und es in unfruchtbarer Arbeit aufgezehrt oder hatten einzig und allein zu seiner Fristung gedient! Niemand kann sich in solchem Alter aus einer dunklen und von der Not niedergedrückten Existenz zu einer glänzenden Zukunft aufschwingen; aber man kann sich immer noch nützlich machen. Ich begriff endlich, daß eine ausgedehnte Überwachung, die mit gutem Rat beisteht, den Wert des gespendeten Geldes zu verzehnfachen vermag, denn die Unglücklichen bedürfen vor allem der Leitung; wenn man sie an dem Ertrage der Arbeit, die sie für andere machen, beteiligt, so fehlt es ihnen nicht an erfinderischem Geist. Einige gute Resultate, die ich erzielte, machten mich sehr stolz.

Weitere Kostenlose Bücher