Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
erwarb.«
»Ah!« rief Gottfried.
»Auch das ist noch nichts,« sagte Alain »wir sind noch nicht bei den Stürmen angelangt. Ich fahre fort. Im Jahre 1807, nach vier ruhigen Jahren, verheiratete Frau de la Chanterie ihre einzige Tochter mit einem Edelmanne, dessen Frömmigkeit, Vorleben und Vermögen jede Garantie darboten, einem Manne, der nach der vulgären Bezeichnung ›Hahn im Korbe‹ bei der besten Gesellschaft des Hauptortes der Präfektur war, wo die gnädige Frau und ihre Tochter den Winter verbrachten. Bemerken Sie dabei, daß diese Gesellschaft aus sieben bis acht Familien bestand, die zum hohen Adel Frankreichs gehörten, den d'Esgrignons, den Troisvilles, den Casterans, den Nouâtres und anderen. Nach anderthalb Jahren verließ dieser Mensch seine Frau und verschwand in Paris, nachdem er seinen Namen geändert hatte. Frau de la Chanterie erfuhr den Grund dieser Trennung, als die Blitze des Gewitters, das über sie hereinbrach, Klarheit brachten. Ihre Tochter, die mit peinlichster Sorgsamkeit und nach den Grundsätzen reinster Frömmigkeit erzogen worden war, bewahrte absolutes Schweigen über dieses Ereignis. Dieser Mangel an Vertrauen verletzte das Empfinden der Frau de la Chanterie schwer. Schon mehrfach hatte sie bei ihrer Tochter Züge wahrgenommen, die den Abenteurercharakter des Vaters verrieten, noch verstärkt durch eine fast männliche Festigkeit. Der Gatte hatte sich aus freiem Antriebe entfernt und seine Angelegenheiten in einem jammervollen Zustande zurückgelassen. Frau de la Chanterie ist heute noch erstaunt über diese Katastrophe, die keine menschliche Macht hätte verhindern können. Alle Leute, die sie vorsichtig um Rat gefragt hatte, hatten ihr erklärt, daß das Vermögen des zukünftigen Schwiegersohnes einwandsfrei und liquide sei und aus hypothekenfreiem Landbesitz bestünde, während es bereits seit zehn Jahren über seinen Wert hinaus belastet war. So wurden jetzt die Besitzungen verkauft, und die junge Frau, die nur noch ihr eigenes Vermögen besaß, kehrte zu ihrer Mutter zurück. Frau de la Chanterie hat später erfahren, daß dieser Mensch von den ehrenwertesten Leuten des Landes im Interesse ihrer Forderungen gestützt wurde; der Elende schuldete allen mehr oder weniger erhebliche Beträge. Daher war Frau de la Chanterie, sobald sie sich in der Provinz niedergelassen hatte, als gute Beute angesehen worden. Abgesehen davon gab es für die Katastrophe aber noch andere Gründe, die Sie aus einem vertraulichen Bericht ersehen werden, der dem Kaiser vorgelegt wurde. Jener Mensch hatte sich außerdem das Wohlwollen der royalistischen Führer des Departements durch seine Hingebung an die königliche Sache während der stürmischsten Zeiten der Revolution zu erschleichen verstanden. Einer der tätigsten Sendboten Ludwigs XVIII., war er von 1793 an in alle Verschwörungen verwickelt; aber er wußte sich so klug und gewandt herauszuziehen, daß er schließlich Verdacht erregte. Von Ludwig XVIII. entlassen und von allen Unternehmungen ferngehalten, war er seit langer Zeit auf seine überschuldeten Güter zurückgekehrt. Diese damals noch geheimnisvollen Vorgänge (die in die Geheimnisse des königlichen Kabinetts Eingeweihten bewahrten über einen so gefährlichen Mitarbeiter Stillschweigen) machten den Menschen zu einem Gegenstande abgöttischer Verehrung in einer den Bourbonen ergebenen Stadt, wo die grausamsten Taten der Chouannerie als rechtmäßige Kriegführung angesehen wurden. Die d'Esgrignons, die Casterans, der Ritter von Valois, kurz, die ganze Aristokratie und die Kirche öffneten diesem royalistischen Diplomaten ihre Arme und nahmen ihn in ihren Schutz. Diese Protektion wurde noch durch den Wunsch verstärkt,daß seine Gläubiger ihr Geld wiederbekommen wollten. Der Elende, ein Gegenstück zu dem verstorbenen de la Chanterie, verstand es, sich so drei Jahre lang zu halten; er trug die größte Scheinheiligkeit zur Schau und wußte seine Laster zu unterdrücken. Während der ersten Monate, die die Neuvermählten zusammen verbrachten, übte er einen gewissen Einfluß auf seine Frau aus; er versuchte, sie durch seine Doktrinen, wenn anders der Atheismus eine Doktrin ist, und durch den scherzenden Ton, mit dem er über die heiligsten Grundsätze sprach, zu verderben. Dieser Diplomat niederer Ordnung stand seit seiner Rückkehr in die Heimat in intimen Beziehungen zu einem jungen Manne, der, wie er, mit Schulden überhäuft war, sich aber durch ebensoviel Freimütigkeit und
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