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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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alle unsere Bezirke ihren Aufseher, wie wir unsere Ärzte nennen,« fuhr der Alte lächelnd fort; »seit vierzehn Tagen haben wir auch übermäßig zu arbeiten; aber wir verdoppeln eben unsere Tätigkeit. – Wenn ich Ihnen dieses Geheimnis unseres neuen Ordens anvertraue, so geschieht das, weil Sie den Arzt des Bezirks, in den Sie sich begeben sollen, kennenlernen müssen, um so mehr, da die Auskünfte von ihm herrühren. Dieser Aufseher heißt Berton, Doktor Berton, und wohnt in der Rue d'Enfer. Es handelt sich um folgendes: Der Doktor Berton behandelt eine Dame, deren Krankheit aller Wissenschaft spottet. Das geht uns allerdings nichts an, sondern die Fakultät; unser Geschäft besteht darin, das Elend, in dem sich die Familie der Kranken befindet, festzustellen, das nach der Vermutung des Doktors furchtbar sein muß und das mit einer Hartnäckigkeit und einem Stolz verborgen gehalten wird, die unsere ganze Sorgsamkeit erfordern. Früher, mein Kind, hätte ich dieser Anforderung genügen können; heute ist für das Werk, dem ich mich geweiht habe, ein Helfer in meinen vier Bezirken nötig, und dieser Helfer sollen Sie sein. Die Familie also wohnt in der Rue Notre-Dame des Champs, in einem Hause, das auch an dem Boulevard Mont-Parnasse liegt. Sie werden dort wohl ein Zimmer mieten können und versuchen, während der Zeit, wo Sie dort wohnen, die Wahrheit herauszubekommen. Für sich selbst seien Sie schmutzig geizig; aber wegen des Geldes, das Sie spenden sollen, brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen; ich werde Ihnen, unter uns gesagt, die Beträge, die wir nach eingehender Prüfung aller Umstände für erforderlich halten, zustellen. Aber studieren Sie genau den Charakter dieser Unglücklichen. Das gute Herz, die vornehme Gesinnung, das sind unsere Hypotheken! Geizig für uns selbst, freigebig gegen die Leidenden, müssen wir vorsichtig und berechnend sein, denn wir schöpfen aus dem Schatz der Armen. Also morgen früh brechen Sie auf, und denken Sie daran, über welche Macht Sie verfügen. Die Brüder werden Sie mit ihren Gedanken begleiten!...«
    »Oh,« rief Gottfried aus, »daß Sie mir die Möglichkeit geben, Gutes zu tun und mich würdig zu zeigen, eines Tages einer der Ihrigen zu werden, das bereitet mir eine solche Freude, daß ich nicht schlafen werde!...«
    »Und nun noch eine letzte Bemerkung, mein Kind. Ebensowenig wie mich dürfen Sie ohne das verabredete Zeichen auch die anderen Herren, die gnädige Frau und selbst die Angestellten des Hauses kennen. Dieses unbedingte Incognito ist für unsere Unternehmungen notwendig, und wir waren so oft gezwungen, es zu bewahren, daß wir es uns zum Gesetz gemacht haben. Im übrigen müssen wir ja auch in Paris unbekannt und verborgen bleiben ... Denken Sie auch, lieber Gottfried, an den Grundsatz unseres Ordens, daß wir niemals als die Wohltäter auftreten, sondern die bescheidene Rolle der Vermittler spielen. Wir geben uns immer als die Agenten einer frommen, gottergebenen Person (wir arbeiten ja für Gott!) aus, damit man sich nicht für verpflichtet zur Dankbarkeit gegen uns hält und uns nicht für reich ansieht. Die wahre, echte, nicht die falsche Bescheidenheit, die sich klein macht, um ans Licht gezogen zu werden, muß Sie begeistern und Ihr ganzes Denken beherrschen ... Wohl dürfen Sie Befriedigung empfinden, wenn Ihnen etwas geglückt ist; aber solange Sie noch eine Regung von Eitelkeit und Stolz verspüren, sind Sie nicht würdig, in unsern Orden einzutreten. Zwei vollkommene Menschen haben wir gekannt: der eine war einer unserer Gründer, der Richter Popinot; der andere, der durch seine Schöpfungen berühmt geworden ist, war ein Landarzt, der seinen Namen in seinem Kanton unvergeßlich gemacht hat. Dieser, mein lieber Gottfried, war einer der größten Männer unserer Zeit; eine ganze Gegend hat er aus der Barbarei in einen gesegneten Zustand gebracht, die Religionslosen hat er zu Katholiken gemacht, die Barbaren zu zivilisierten Menschen. Die Namen dieser beiden Männer sind in unsere Herzen eingegraben, und wir betrachten sie als unsere Vorbilder. Wir würden sehr glücklich sein, wenn wir einmal auf Paris denselben Einfluß ausüben könnten wie dieser Landarzt auf seinen Kanton. Aber hier ist die klaffende Wunde ungeheuer groß, und unsere Kräfte reichen, vor der Hand wenigstens, nicht aus. Möge Gott, uns noch lange die gnädige Frau erhalten und uns Helfer wie Sie senden, dann werden wir vielleicht eine Institution hinterlassen, die die

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