Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
derjenigen gegenüber übernimmt, die wir für eine Heilige halten? Begreifen Sie, welche Anziehungskraft eine Frau auszuüben vermag, die durch so viel Unglück geweiht ist, die so viel erfahren hat, die das Elend bis auf die Neige ausgekostet, aber in jedem Schicksalsschlag nur eine Mahnung gesehen hat, deren edle Tugenden durch die härtesten Prüfungen und durch beständige Tätigkeit doppelt geheiligt sind, deren Seele ohne Fehl, ohne Tadel ist, die von der Mutterschaft nur die Schmerzen, von der ehelichen Liebe nur die Bitterkeiten kennengelernt, der das Lebensglück nur ein paar Monate gelächelt hat, und der im Himmel sicherlich eine Palme zugedacht ist für so viel Ergebung und Sanftmut bei allen Kümmernissen? Steht sie nicht höher als Hiob, sie, die niemals über ihr Elend gejammert hat? Nun werden Sie sich nicht mehr darüber wundern, daß ihre Worte so eindringlich, ihr Alter so jugendlich, ihre Seele so mitteilsam, ihre Blicke so überzeugend sind; sie besitzt außerordentliche Fähigkeiten, in den Seelen der Duldenden zu lesen, denn sie hat selbst alles erduldet. Neben dem ihrigen muß jeder andere Schmerz schweigen.«
»Sie ist das lebende Bild der Barmherzigkeit!« rief Gottfried begeistert aus. »Werde ich zu Ihnen gehören dürfen?«
»Sie müssen sich der Prüfung unterwerfen und vor allem gläubig werden!« sagte der Alte sanft. »So lange Sie den Glauben nicht haben, so lange Sie in Ihr Herz und in Ihren Geist den göttlichen Sinn des Kapitels im heiligen Paulus über die Barmherzigkeit nicht aufgenommen haben, so lange können Sie an unserm Werke nicht mitarbeiten.«
Der Aufgenommene
Ebenso wie das Böse wirkt auch das Gute ansteckend. So empfand auch der Pensionär der Frau de la Chanterie, nachdem er einige Monate in dem alten stillen Hause verbracht hatte, nach den letzten vertraulichen Eröffnungen des guten Alain, die ihm den tiefsten Respekt für die, mit denen er wie mit Ordensbrüdern zusammen lebte, einflößten, das geistige Wohlgefühl, das ein geregeltes Leben, eine angenehme Tätigkeit und die harmonische Übereinstimmung mit der Umgebung verleihen. Nach vier Monaten, in denen er weder laute Worte noch einem Streit gehört hatte, mußte sich Gottfried selbst gestehen, daß er sich nicht erinnern konnte, seit Beginn seines Mannesalters sich, wenn auch nicht glücklich, doch niemals so beruhigt gefühlt zu haben. Da er sie jetzt nur von fern sah, beurteilte er die Welt verständig. Und schließlich wurde der Wunsch, den er seit drei Monaten hegte, Mitarbeiter an dem Werke der geheimnisvollen Personen zu werden, zur Leidenschaft; ohne ein großer Philosoph zu sein, kann sich jeder vorstellen, wie stark eine Leidenschaft in der Einsamkeit werden kann.
Eines Tages nun, – und dieser Tag wurde für ihn ein feierlicher, da er an ihm die Allmacht des Geistes empfand –, begab sich Gottfried, nach dem er sein Herz durchforscht und seine Kräfte geprüft hatte, zu dem guten alten Alain, den Frau de la Chanterie »ihr Lamm« nannte, und der von allen Hausgenossen der am wenigsten imponierende und der zugänglichste war, mit der Absicht, von ihm einige Aufklärungen über die Art der opferwilligen Tätigkeit, die die Ordensbrüder in Paris entfalteten, zu erbitten. Die Anspielungen auf eine Zeit der Prüfung verhießen ihm die erwartete Aufnahme. Durch das, was der ehrwürdige Greis ihm über die Bedingungen seines Beitritts zu dem Werke der Frau de la Chanterie gesagt hatte, war seine Neugierde nicht befriedigt worden; er wollte mehr darüber wissen.
Zum drittenmal fand sich Gottfried bei dem braven Alain um zehneinhalb Uhr abends ein, wo der Alte bei der Lektüre der »Nachahmung Christi« zu sein pflegte. Dieses Mal vermochte der freundliche Führer ein Lächeln nicht zu unterdrücken, als er den jungen Mann erblickte; und ohne ihm Zeit zum Reden zu lassen, sagte er:
»Warum wenden Sie sich an mich, mein lieber Junge, anstatt an die gnädige Frau? Ich bin der Unwissendste, der Geistloseste und Unvollkommenste des ganzen Hauses. Seit drei Tagen schon lesen die gnädige Frau und meine Freunde in Ihrem Herzen«, fügte er mit einem etwas listigen Gesichtsausdruck hinzu.
»Und was haben sie darin gelesen?...« fragte Gottfried.
»Oh«, erwiderte der Gute ohne Umschweife, »sie ahnten, daß Sie ziemlich instinktiv Lust haben, zu unserer kleinen Truppe zu gehören. Aber diese Empfindung ist bei Ihnen noch nicht zu dem glühenden Gefühl geworden, dazu berufen zu sein. Ja,« fuhr
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