Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
er lebhaft fort, als er eine Bewegung Gottfrieds bemerkte, »noch ist es bei Ihnen mehr Neugierde als ein heißer Wunsch. Und dann haben Sie sich noch nicht so völlig von Ihren früheren Anschauungen losgesagt, daß Sie nicht in unserer Tätigkeit etwas gewissermaßen Abenteuerliches, etwas Romantisches, wie man sagt, sähen ...«
Gottfried konnte ein Erröten nicht unterdrücken. »Sie betrachten unser Tun wie das der Kalifen in ›Tausendundeiner Nacht‹, und Sie empfinden schon im Voraus eine Art Genugtuung, die Rolle des guten Genius in Wohltätigkeitsromanen, die Sie sich zusammenzudichten belieben, zu spielen!... Ja, mein Sohn, Ihr verlegenes Lächeln beweist mir, daß wir uns nicht getäuscht haben. Wie können Sie glauben, daß es möglich sei, Leuten eine Empfindung zu verheimlichen, deren Beruf es ist, den geheimsten Seelenvorgängen, den Listen der Armen, den Spekulationen der Bedürftigen auf die Spur zukommen, die ehrenhafte Spione sind, Polizisten des lieben Gottes, also Richter, deren Gesetzbuch nur Freisprüche kennt, Ärzte für alle Leiden, deren einziges Heilmittel klug verteiltes Geld ist. Aber, sehen Sie, mein Kind, wir bekümmern uns nicht um die Beweggründe, die uns einen Neophyten zuführen, wenn er nur bei uns bleibt und ein Bruder unseres Ordens wird. Wir werden Sie nach Ihren Taten beurteilen. Es gibt zwei Arten von Neugierde: die auf das Gute und die auf das Böse gerichtete; Sie sind jetzt auf das Gute neugierig. Wenn Sie ein Arbeiter in unserem Weinberge werden sollten, so wird der Saft der Trauben Ihnen den unstillbaren Durst nach der göttlichen Frucht einflößen. Der Anfang ist, wie in allen Wissenschaften, scheinbar leicht, in Wirklichkeit aber schwer. Es geht mit der Wohltätigkeit wie mit der Dichtkunst. Nichts leichter als den äußeren Schein vorzuspiegeln. Aber hier wie auf dem Parnaß sind wir erst befriedigt, wenn wir das Vollkommene erreicht haben. Wenn Sie einer der Unsrigen werden wollen, müssen Sie sich umfassende Kenntnis des Lebens erwerben, und was für eines Lebens, mein Gott! Des Pariser Lebens, das selbst dem Scharfsinn des Herrn Polizeipräfekten und seiner Leute spottet. Müssen wir nicht gegen die beständigen Verschwörungen des Bösen ankämpfen und es in all seinen wechselnden Formen packen, die schier unendlich zu sein scheinen? Die Barmherzigkeit muß in Paris ebenso schlau sein wie das Laster, gleichwie der Polizeiagent ebenso gerissen sein muß wie der Dieb. Jeder von uns muß zugleich offenherzig und mißtrauisch sein und auf den ersten Blick klar und schnell zu urteilen vermögen. Wir alle, mein Kind, sind ja auch alte oder gealterte Leute; aber wir sind so zufrieden mit den Resultaten, die wir erreicht haben, daß wir nicht sterben möchten, ohne Nachfolger zu hinterlassen; und Sie sind uns allen um so teurer, als Sie, wenn Sie an Ihrem Vorsatz festhalten, unser erster Schüler sein werden. Einen Zufall gibt es nicht für uns, wir haben Sie Gott zu verdanken! Sie sind gut, aber verbittert; und seitdem Sie hier wohnen, sind die schlechten Keime in Ihnen kraftloser geworden. Das göttliche Wesen der gnädigen Frau hat seinen Eindruck auf Sie nicht verfehlt. Gestern haben wir Rat gehalten; und da ich Ihr Vertrauen besitze, haben meine Mitbrüder beschlossen, mich Ihnen als Beschützer und Lehrer zur Seite zu stellen... Sind Sie damit zufrieden?«
»Ach, mein lieber Herr Alain, Ihre beredten Worte haben in mir...«
»Nicht ich bin es, mein Kind, der gut redet, es sind die Dinge, die so beredt sprechen... Man kann immer der großen erhebenden Wirkung sicher sein, wenn man Gott gehorsam ist und Jesus Christus nachzuleben versucht, so weit das Menschen vermögen, denen der Glaube hilft...«
»Ja, dieser Augenblick hat über mein Leben entschieden, und ich fühle die Begeisterung des Neophyten in mir! rief Gottfried. »Auch ich will mein Leben damit hinbringen, Gutes zu tun...«
»Darin besteht das Geheimnis der Vereinigung mit Gott«, versetzte der biedere Alain. »Haben Sie sich den Spruch recht überlegt: Transire bene faciendo? Transire, das will heißen: aus dem Leben scheiden, nachdem man eine tiefe Spur ausgedehnter guter Taten hinterlassen hat.«
»Ich habe ihn wohl verstanden, ich habe den Spruch selbst über meinem Bette angeschrieben.«
»Das ist gut! Diese an sich so unerhebliche Handlung wiegt schwer in meinen Augen! Also, mein Kind, ich habe ein erstes Geschäft für Sie, Ihren ersten Kampf mit dem Elend, ich werde Ihnen den Steigbügel
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