Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Menschen ihre heilige Religion segnen lassen wird. Also, leben Sie wohl... Ihre Probezeit beginnt ... Ach! Ich schwatze wie ein Professor und vergesse die Hauptsache. Hier ist die Adresse der Familie«, sagte er und reichte Gottfried ein Stück Papier; »ich habe auch die Nummer des Hauses aufgeschrieben, in dem der Herr Berton in der Rue d'Enfer wohnt... Und nun gehen Sie und beten Sie zu Gott, daß er Ihnen hilfreich beistehe.«
    Gottfried ergriff die Hände des guten Alten, drückte sie zärtlich, wünschte ihm gute Nacht und versprach ihm, alle seine Anordnungen zu befolgen.
    »Alles, was Sie mir gesagt haben,« fügte er hinzu, »ist für alle Zeit in mein Gedächtnis eingegraben.«
    Der Alte lächelte, ohne einen Zweifel zu äußern, und erhob sich, um auf seinem Betschemel niederzuknien. Gottfried kehrte in sein Zimmer zurück, glücklich darüber, daß er endlich in die Geheimnisse dieses Hauses eingeweiht wurde, und daß er eine Tätigkeit gefunden hatte, die er bei seinem jetzigen Geisteszustande mit Freuden ergriff.
    Am andern Morgen fehlte der gute Alain beim Frühstück; Gottfried machte keine Andeutung über den Grund seiner Abwesenheit; er wurde auch nicht über die Mission befragt, mit der ihn der Alte betraut hatte; so nahm er seine erste Lektion in der Zurückhaltung. Trotzdem ging er nach dem Frühstück mit Frau de la Chanterie beiseite und meldete ihr, daß er einige Tage abwesend sein würde.
    »Schön, mein Kind!« antwortete Frau de la Chanterie; »geben Sie sich Mühe, Ihrem Paten Ehre zu machen; Herr Alain hat sich für Sie bei den Brüdern verbürgt.«
    Gottfried verabschiedete sich von den drei andern Brüdern, die ihn mit einem freundlichen Gruß entließen, als wollten sie sein Debüt in seiner schwierigen Laufbahn segnen.
    Die Assoziation, eine der bedeutendsten sozialen Kräfte, die aus den mittelalterlichen Staaten das heutige Europa gemacht hat, beruht auf einer geistigen Tendenz, die seit 1792 in Frankreich nicht mehr vorhanden ist, wo der Individualismus über den Staatsbegriff gesiegt hat. Die Assoziation verlangt vor allem eine Hingebung, die hier nicht verstanden wird, dann einen kindlichen Glauben, der dem Geist der Nation widerspricht, und schließlich eine Disziplin, gegen die sich alle sträuben und die allein die katholische Religion durchsetzen kann. Sobald sich eine Assoziation in unserem Lande bildet, denkt jedes Mitglied, wenn es aus einer Versammlung, in der die schönsten Grundsätze verkündet wurden, heimkehrt, nur daran, wie es sich von dieser gemeinsamen Hingebung, von dieser Zusammenfassung der Kräfte loslösen, sinnt nur darauf, wie es die gemeinsame Kuh für sich selber melken könne, die dann, da sie so vielen einzelnen Ansprüchen nicht genügen kann, die Schwindsucht bekommt.
    Man ahnt nicht, wie viele edelmütige Gefühle so hinwelkten, wie viele fruchtbringende Keime verdorrten, wie viele Federn zerbrachen und so für unser Land verlorengingen infolge der elenden Betrügereien der französischen Carbonari, durch die patriotischen Sammlungen für das Kinderasyl und anderen politischen Schwindel, durch den aus gewaltigen edlen Dramen Vaudevilles der Zuchtpolizei wurden. So ging es mit den industriellen wie mit den politischen Assoziationen. Die Eigenliebe hat sich an die Stelle der Sorge für das Allgemeinwohl gesetzt. Die Korporationen und die Hansen des Mittelalters, auf die man wieder zurückkommen wird, sind vorläufig noch unmöglich; daher sind die einzigen »Gesellschaften«, die noch übriggeblieben sind, die religiösen; und die bekämpft man jetzt aufs schärfste, denn die Kranken sind von Natur aus bestrebt, sich gegen die Heilmittel und oft auch gegen die Ärzte aufzulehnen. Die Franzosen kennen den Begriff der Selbstverleugnung nicht. Daher kann auch jede Assoziation nur auf dem religiösen Empfinden aufgebaut werden, dem einzigen, das die Auflehnung des Geistes, die Pläne des Ehrgeizes und die Begierden jeder Art zu bändigen vermag. Die Weltverbesserer wissen nicht, daß die Assoziation uns neue Welten zu schenken imstande ist.
    Als er durch die Straßen schritt, fühlte sich Gottfried wie ein anderer Mensch. Wer in sein Inneres hätte blicken können, würde beobachtet haben, wie sich die zusammengefaßte Macht der anderen auf ihn übertragen hatte. Er war nicht mehr ein einzelnes, sondern ein verzehnfachtes Wesen, da er sich als Repräsentant von fünf Personen fühlte, deren vereinte Kräfte sein Handeln stützten, und die ihn auf seinen

Weitere Kostenlose Bücher