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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Wegen begleiteten. In dem Bewußtsein einer solchen Kraft empfand er sein Leben als ein so reiches, seine Macht als so erhaben, daß er von Begeisterung erfüllt wurde. Es war, wie er später erzählte, einer der schönsten Momente seines Daseins; er genoß sein Leben in einem neuen Sinne, in dem Gefühl einer Allmacht, die fester gegründet war als die eines Despoten. Die moralische Kraft ist wie der Geist unbegrenzt.
    ›Für seinen Nächsten leben,‹ sagte er sich, ›gemeinsam wie ein einzelner handeln und allein wie alle zusammen; als Leitstern die Barmherzigkeit haben, die schönste und lebendigste Idealgestalt, die die katholischen Tugenden geschaffen haben, das heißt leben! Aber ich muß dieses kindliche Freudengefühl, über das der Vater Alain lächeln würde, unterdrücken. Ist es aber nicht, eigentümlich,‹ sagte er sich weiter, ›wie ich gerade dadurch, daß ich allem entsagen wollte, diese Macht, die ich seit so langer Zeit ersehnt hatte, erlangt habe? Die ganze Welt der Unglücklichen wird mir gehören!‹
    Er legte den Weg von dem Kloster Notre-Dame bis zur Avenue de l'Observatoire in solcher Erregung zurück, daß er die Länge der Entfernung gar nicht gewahr wurde. Als er in der Rue Notre-Dame des Champs bis an die Stelle gelangt war, wo sie in die Rue de l'Ouest mündet, die damals beide noch nicht gepflastert waren, erstaunte er, an einem so herrlichen Orte einen solchen Morast zu finden. Man konnte nur an den Bretterzäunen der sumpfigen Gärten oder an den Häusern entlang auf schmalen Steigen vorwärts kommen, die auch bald von dem stagnierenden Wasser in Rinnsteine verwandelt wurden. Nach einigem Suchen entdeckte er schließlich das bezeichnete Haus, das er nicht ohne Mühe erreichte. Es war anscheinend eine alte verlassene Fabrik. Der ziemlich gedrückte Bau sah aus wie eine lange, von Fenstern durchbrochene Mauer ohne jeden Schmuck; aber die Fensteröffnungen befanden sich nur im Erdgeschoß, wo man außerdem nur noch eine kleine Tür sah.
    Gottfried nahm an, daß der Hauseigentümer hier kleine Wohnungen eingerichtet habe, um einen Ertrag zu erzielen; denn über der Tür befand sich eine mit der Hand geschriebene Anzeige: ›Mehrere Zimmer zu vermieten.‹ Gottfried läutete, aber niemand erschien; und während er wartete, machte ihn ein Vorübergehender darauf aufmerksam, daß das Haus noch einen Eingang am Boulevard habe, dort würde er jemanden finden, mit dem er reden könne.
    Gottfried befolgte diesen Rat und erblickte am Ende eines kleinen Gartens, der sich am Boulevard hinzog, die Fassade des Gebäudes hinter den Bäumen. Das ziemlich schlecht gehaltene Gärtchen war tief gelegen, denn zwischen dem Boulevard und der Rue Notre-Dame des Champs ist ein ziemlich beträchtlicher Höhenunterschied, der das Gärtchen zu einer Art Graben machte. Gottfried betrat eine Allee, an deren Ende er eine alte Frau erblickte, deren zerlumpte Kleidung in vollkommener Übereinstimmung mit dem Hause stand.
    »Waren Sie das, der in der Rue Notre-Dame geklingelt hat? fragte sie.
    »Jawohl... Können Sie mir die Zimmer hier zeigen?«
    Auf die bejahende Antwort dieser Portiersfrau von zweifelhaftem Alter erkundigte sich Gottfried danach, ob das Haus von ruhigen Leuten bewohnt werde; er habe eine Beschäftigung, die Ruhe und Schweigen brauche; er sei Junggeselle und wolle mit der Portiersfrau ein Abkommen treffen, daß sie ihm die Aufwartung machen solle.
    Nach dieser Ankündigung machte die Frau ein freundliches Gesicht und sagte:
    »Der Herr trifft es hier gut, denn außer an den Tagen, an denen in der Grande Chaumière getanzt wird, ist der Boulevard so menschenleer wie die Pontinischen Sümpfe ...«
    »Kennen Sie denn die Pontinischen Sümpfe?« sagte Gottfried.
    »Nein, mein Herr; aber ich habe da oben einen alten Herrn wohnen, dessen Tochter beständig im Sterben liegt, der sagt so; ich spreche es ihm bloß nach. Der arme Alte wird sehr froh sein, wenn er erfährt, daß der Herr Ruhe liebt und verlangt; denn ein Mieter, der Skandal macht, würde seiner Tochter den Rest geben... Im zweiten Stock haben wir zwei Leute, die so was wie Schriftsteller sind; aber die kommen am Tage um Mitternacht nach Hause, und nachts gehen sie um acht Uhr früh wieder weg. Sie nennen sich Autoren, aber ich weiß nicht, wo und ob sie arbeiten.«
    Unter solchem Geschwätz hatte die Portiersfrau Gottfried eine scheußliche Treppe hinauf geführt, die aus Bruchsteinen und Holz bestand, welche so schlecht miteinander

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