Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Witwe.
»Bleiben Sie nur hier«, rief Gottfried jetzt dem Gärtner zu. »Und Sie, mein verehrter Herr Nachbar,« wandte er sich an Herrn Bernard, der gegen diese grobe Beleidigung unempfindlich zu sein schien, »kommen Sie, wenn Sie mit dem Gärtner zu verhandeln haben, nur ruhig in mein Zimmer herein.« Der große Alte, vor Schmerz stumpf geworden, warf Gottfried einen Blick zu, in dem sich heiße Dankbarkeit ausdrückte.
»Was Sie anlangt, liebe Frau Vauthier, so seien Sie gefälligst nicht so grob gegen einen Herrn, der erstens ein Greis ist und dem Sie es auch zu verdanken haben, daß ich die Wohnung hier genommen habe.«
»Ach was!« rief die Witwe.
»Außerdem aber, wenn die Leute, die nicht zu den Reichen gehören, sich nicht gegenseitig helfen, wer wird ihnen denn helfen? Lassen Sie uns jetzt allein, Frau Vauthier, ich werde selber einheizen. Lassen Sie mein Holz in Ihren Keller bringen, ich hoffe, Sie werden gut darauf achtgeben.«
Frau Vauthier verschwand; daß Gottfried ihr sein Holz zum Aufbewahren gegeben hatte, war ein rechtes Fressen für ihre Habgier. –
»Kommen Sie hier herein, meine Herren«, sagte Gottfried, machte dem Gärtner ein Zeichen und bot dem Schuldner und dem Gläubiger Stühle an.
Der Alte blieb stehen, aber der Gärtner setzte sich.
»Hören Sie, lieber Herr Cartier, die Reichen zahlen auch nicht so prompt, wie Sie behaupten, und Sie dürfen einen ehrenwerten Mann nicht wegen einiger Louisdor drängen. Der Herr bekommt seine Pension nur alle sechs Monate ausgezahlt und kann Ihnen keine Anweisung auf eine so unbedeutende Summe geben; ich werde das Geld vorstrecken, wenn Sie es durchaus verlangen.«
»Herr Bernard hat seine Pension vor etwa zwanzig Tagen empfangen und hat mich doch nicht bezahlt... Es tut mir leid, daß ich ihm Umstände mache ...«
»Wie denn? Sie liefern ihm Blumen seit...«
»Jawohl, lieber Herr, seit sechs Jahren, und er hat immer pünktlich bezahlt.«
Herr Bernard, der immer ängstlich auf das horchte, was in seiner Wohnung vorging, ohne auf die Diskussion zu achten, hörte plötzlich ein Geschrei durch die Tür und ging voll Schrecken, ohne ein Wort zu sagen, fort.
»Hören Sie, mein Bester, bringen Sie nur schöne Blumen, Ihre allerschönsten Blumen noch heute früh Herrn Bernard, und Ihre Frau soll ihm frische Eier und Milch schicken; ich werde es Ihnen heute abend bezahlen.«
Cartier sah Gottfried mit eigentümlichem Ausdruck an.
»Sie sind jedenfalls besser unterrichtet als Frau Vauthier, die mir geraten hat, ich solle mich beeilen, wenn ich zu meinem Gelde kommen wolle. Weder Sie noch ich, mein Herr, können sich erklären, warum Leute, die sich von Brot ernähren und Gemüseabfall, die Reste von Mohrrüben, Bohnen und Kartoffeln an der Tür der Restaurants aufsammeln... Jawohl, mein Herr, ich habe den Kleinen überrascht, wie er einen alten Handkorb damit füllte... also, wie solche Leute mehr als vierzig Franken monatlich für Blumen ausgeben können... Man erzählt sich, daß der Alte nur dreitausend Franken Pension hat.«
»Na, jedenfalls«, entgegnete Gottfried, »brauchen Sie sich doch nicht darüber zu beklagen, wenn sie sich mit der Ausgabe für Blumen ruinieren.«
»Gewiß, mein Herr, vorausgesetzt, daß Sie sie mir bezahlen.«
»Bringen Sie mir nur Ihre Rechnung.« »Sehr wohl, mein Herr,« sagte der Gärtner mit einem Anflug von Respekt, »der Herr will wohl die versteckte Dame zu Gesicht bekommen?«
»Hören Sie, mein Freund, Sie vergessen sich!« erwiderte Gottfried trocken. »Gehen Sie nach Hause und suchen Sie Ihre schönsten Blumen aus als Ersatz für die, die Sie abholen. Wenn Sie mir selbst gute Sahne und frische Eier liefern wollen, so können Sie meine Kundschaft bekommen, ich werde mir heute Vormittag Ihr Etablissement ansehen.«
»Das ist eins der schönsten in Paris, mein Herr, ich stelle auch im Luxembourg aus. Mein drei Morgen großer Garten liegt am Boulevard, hinter dem Garten der Grande Chaumière.«
»Schön, Herr Cartier. Wie mir scheint, sind Sie reicher als ich... Sie müssen uns gut behandeln, wer weiß, ob wir einander nicht einmal brauchen werden.«
Der Gärtner entfernte sich jetzt, sehr beunruhigt darüber, wer Gottfried wohl sein möge. ›So bin ich auch mal gewesen‹, sagte Gottfried sich, während er seinen Kamin heizte. ›Was für ein Musterbild der heutigen Bourgeoisie! Klatschsüchtig, neugierig, auf die Gleichheit aller pochend, auf Kundschaft bedacht, wütend darüber, daß er nicht
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