Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
vom Unglück erdrückte Familie dachte, empfand Gottfried, der nach der Rue Marbeuf hin schlenderte, doch noch mehr Neugierde als Drang zur Wohltätigkeit. Diese inmitten des furchtbarsten Elends von Luxus umgebene Kranke ließ ihn die schauderhaften einzelnen Erscheinungen der abnormsten aller nervösen Erkrankungen vergessen, die glücklicherweise, wie mehrere Fachschriftsteller bekunden, eine ganz seltene Ausnahme ist; einer unserer plauderlustigsten Berichterstatter, Tallemant des Réaux, erwähnt ein Beispiel davon. Man stellt sich die Frauen auch bei den furchtbarsten Leiden gern elegant vor. So versprach sich Gottfried auch ein Vergnügen davon, daß er nun in dieses Zimmer eindringen sollte, das seit sechs Jahren nur der Arzt, der Vater und der Sohn betreten hatten. Trotzdem schalt er sich schließlich wegen seiner Neugierde aus. Er begriff, daß dieses natürliche Gefühl in dem Maße zurücktreten müßte, in welchem er seinen Wohltätigkeitsdienst weiter ausüben würde, bei dem er immer neue Familien und immer neue Leiden zu sehen bekäme.
Man gelangt in der Tat schließlich zu der göttergleichen Anpassungsfähigkeit, in der Einen nichts mehr in Erstaunen setzt und überrascht, ebenso wie man in der Liebe zu der erhabenen Gemütsruhe gelangt, und durch beständige Fürsorge und Zärtlichkeit ihrer Kraft und Dauer sicher wird.
Gottfried erfuhr, daß Halpersohn in der Nacht zurückgekehrt war; aber schon frühmorgens hatte er zu seinen Kranken, die ihn erwarteten, fahren müssen. Die Portierfrau sagte Gottfried, er solle am nächsten Morgen vor neun Uhr wiederkommen.
Da er sich der Ermahnung Alains über die Sparsamkeit in persönlichen Ausgaben erinnerte, speiste Gottfried für fünfundzwanzig Sous in der Rue de Tournon und wurde für seine Selbstverleugnung belohnt, indem er sich hier mitten unter Setzern und Korrektoren einer Druckerei befand. Er hörte eine Diskussion über Herstellungskosten mit an, an der er sich beteiligte, und erfuhr so, daß ein Oktavband von vierzig Druckbogen bei einer Auflage von tausend Exemplaren nicht mehr als dreißig Sous pro Exemplar bei sorgfältigster Ausführung koste. Er nahm sich vor, sich noch über den Preis zu informieren, zu dem juristische Bücher verkauft wurden, um einer Verhandlung mit den Buchhändlern, die Herrn Bernard in der Hand hatten, gewachsen zu sein, wenn er mit ihnen zusammenträfe.
Gegen sieben Uhr abends kehrte er durch die Rues Vaugirard, Madame und de l'Ouest nach dem Boulevard Mont-Parnasse zurück und überzeugte sich, wie einsam dieses Viertel war, denn er begegnete keinem Menschen. Allerdings war strenge Kälte eingetreten, der Schnee fiel in dicken Flocken, und die Wagen fuhren geräuschlos über das Pflaster.
»Ah, da sind Sie ja, lieber Herr!« sagte die Witwe Vauthier, als sie Gottfried erblickte; »hätte ich gewußt, daß Sie so früh nach Hause kommen würden, so hätte ich Ihnen Feuer gemacht.«
»Das ist überflüssig, antwortete Gottfried, als er sah, daß die Vauthier ihm folgte; »ich werde den Abend bei Herrn Bernard verbringen...«
»Nanu, sind Sie denn sein Vetter, daß Sie schon am zweiten Tage auf Einladungsfuß mit ihm stehen?... Ich dachte, der Herr würde die Besprechung mit mir, die wir angefangen hatten, fortsetzen.«
»Ach so, wegen der vierhundert Franken!« sagte Gottfried leise zu der Witwe. »Hören Sie mal, Mama Vauthier, Sie wollen sich zwischen der Ziege und dem Kohlkopf hindurchschlängeln, und werden nun weder die Ziege noch den Kohlkopf bekommen; denn was mich betrifft, so haben Sie mich bereits verraten... das Geschäft ist mir ganz mißlungen...«
»Aber glauben Sie doch das nicht, lieber Herr... Morgen früh, wenn Sie frühstücken...«
»Oh, morgen muß ich, wie Ihre beiden Schriftsteller, schon bei Tagesanbruch fortgehen...«
Das frühere Leben Gottfrieds als Dandy und als Journalist kam ihm darin zustatten, daß er genügend Erfahrung besaß, um sich denken zu können, daß, wenn er nicht so handelte, Barbets Spießgesellin den Buchhändler von jeder Gefahr benachrichtigen, und daß die Verfolgungen beginnen und sehr bald die Freiheit Bernards bedrohen würden; während das Trio der habgierigen Geschäftsleute, wenn er sie in dem Glauben ließ, daß sie keinerlei Gefahr liefen, sich ruhig verhalten mochte. Aber Gottfried kannte die Natur einer Pariserin noch nicht genügend, wenn sie sich als Witwe Vauthier verkleidet. Dieses Weib wollte Geld von Gottfried und von ihrem Hausbesitzer haben.
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