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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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köstlicher sind, als ich sie beständig dem Tode abringen muß... Sie werden mich gewiß für sehr schwatzhaft halten...« schloß sie lächelnd.
    »Gnädige Frau, erwiderte Gottfried, »ich möchte Sie am liebsten bitten, immer weiter zu sprechen, denn ich habe noch nie eine Stimme gehört, die mit der Ihrigen zu vergleichen wäre... Das ist die reine Musik: Rubini kann Einen nicht mehr begeistern...«
    » Ach, sprechen Sie nicht von Rubini und der italienischen Oper«, sagte der Alte mit einem Anflug von Traurigkeit. »Wie reich wir auch sind, – es ist mir doch nicht möglich, meiner Tochter, die eine bedeutende Musikerin war, diesen Genuß, den sie leidenschaftlich begehrt, zu verschaffen.«
    »Oh, verzeihen Sie«, sagte Gottfried.
    »Sie müssen sich an uns gewöhnen«, bemerkte der Alte.
    Lächelnd sagte die Kranke: »Das geschieht folgendermaßen: Wenn man Ihnen mehrmals ›Achtung‹ zugerufen haben wird, dann werden Sie das Blindekuhspiel unserer Unterhaltung begriffen haben.«
    Gottfried wechselte einen schnellen Blick mit Herrn Bernard, der, als er Tränen in den Augen seines Nachbars sah, einen Finger auf den Mund legte, um ihm anzudeuten, er solle den Heroismus, den er mit seinem Enkelsohn seit sieben Jahren bewies, nicht erschüttern.
    Dieser ständige erhabene Betrug, den die völlige Ahnungslosigkeit der Kranken bestätigte, machte auf Gottfried den Eindruck, als wenn zwei Gemsenjäger einen steilen Bergabsturz mühelos hinabstiegen. Die prachtvolle goldene, diamantenbesetzte Dose, mit der der Alte am Fußende des Bettes seiner Tochter unbefangen spielte, erschien als ein genialer Zug im Spiele eines überragenden Mannes, der einen Ruf der Bewunderung auslösen müßte. Gottfried betrachtete die Tabaksdose und fragte sich, warum sie nicht verkauft oder ins Leihhaus getragen worden sei; er beschloß, mit dem Alten darüber zu reden.
    »Meine Tochter, Herr Gottfried, ist durch die Ankündigung Ihres Besuches heute abend in eine solche Erregung geraten, daß alle die abnormen Erscheinungsformen ihrer Krankheit, die uns seit zwölf Tagen in Verzweiflung versetzten, vollkommen verschwunden sind... Urteilen Sie also, ob ich Ihnen dankbar bin!«
    »Und ich erst!...« rief die Kranke mit ihrer einschmeichelnden Stimme und machte eine kokette Kopfbewegung. »Der Herr ist für mich der Abgesandte der großen Welt... Seit zwanzig Jahren, mein Herr, weiß ich nicht mehr, was ein Salon, eine Soiree, ein Ball ist... Dabei liebe ich den Tanz und schwärme fürs Theater, besonders für die Oper. Ich kann mir alles nur in Gedanken vorstellen. Ich lese sehr viel. Und dann erzählt mir mein Vater, was in der Welt vorgeht...«
    Als er das hörte, machte Gottfried eine Bewegung, als wolle er vor dem armen Alten niederknien.
    »Ja, wenn er in die Italienische Oper geht, und er geht oft hin, dann beschreibt er mir die Toiletten und berichtet mir, wie gesungen wurde. Ach, ich möchte so gern gesund werden, zunächst um meines Vaters willen, der einzig und allein für mich lebt, wie ich durch ihn und für ihn lebe; dann für meinen Sohn, dem ich eine andere Mutter sein möchte! Ach, mein Herr, was für vollkommene Wesen sind mein alter Vater... und mein vortrefflicher Sohn... Aber ich möchte auch gesund werden, um Lablache, Rubini, Tamburini, die Grisi und die Puritaner zu hören... Aber...«
    »Ruhe, mein Kind!... Wenn wir über Musik reden, dann sind wir verloren«, sagte der Alte lächelnd.
    Er lächelte, und dieses Lächeln, das sein Gesicht verjüngte, täuschte offenbar die Kranke immer.
    »Ja, ich will artig sein«, sagte Wanda mit mutwilligem Gesicht; »aber schenk mir das Akkordeon.«
    Damals war dieses tragbare Musikinstrument erfunden worden, das gerade auf dem Bettrande der Kranken Platz hatte und das nur mit den Füßen getreten zu werden brauchte, um Orgeltöne von sich zu geben. In bester Ausführung kam dieses Instrument einem Klavier gleich; aber es kostete damals dreihundert Franken. Die Kranke hatte aus den Zeitungen und Revuen, die sie las, von der Existenz dieses Instruments erfahren und wünschte sich eins seit zwei Monaten.
    »Ja, gnädige Frau, Sie sollen eins haben«, entgegnete Gottfried auf einen Blick, den ihm der Alte zuwarf. »Ein Freund von mir, der nach Algier geht, besitzt ein ausgezeichnetes, das ich mir von ihm leihen werde; bevor Sie sich eins kaufen, können Sie das ja ausprobieren... Es wäre möglich, daß die stark vibrierenden Töne Ihnen nicht zusagen...«
    »Kann ich es morgen

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