Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
liebes Kind,« sagte Herr Bernard zu seiner Tochter und nahm Gottfried bei der Hand, »ist der Nachbar, von dem ich dir erzählt habe.«
Und er machte seinem Enkelsohn ein Zeichen, daß er einen dem Lehnstuhl ähnlichen Sessel, von denen zwei zu beiden Seiten des Kamins standen, heranschieben solle.
»Der Herr heißt Herr Gottfried und ist außerordentlich liebenswürdig gegen uns.«
Wanda antwortete mit einem Kopfnicken auf Gottfrieds tiefe Verbeugung; an der Art, wie sich ihr Hals hin und her bewegte, sah Gottfried deutlich, daß das ganze Leben der Kranken auf das Haupt beschränkt war. Die abgemagerten Arme, die schlaffen Hände lagen auf der feinen weißen Decke wie zwei Dinge, die dem Körper fremd geworden waren, der gar keinen Platz in dem Bette einzunehmen schien. Die für die Kranke notwendigen Dinge befanden sich hinter ihrem Kopfkissen auf einer mit einem seidenen Vorhang verhüllten Etagere.
»Sie sind die erste Person, mein Herr, abgesehen von den Ärzten, die für mich keine Männer sind, die ich seit sechs Jahren zu Gesicht bekommen habe; Sie können sich daher nicht vorstellen, wie gespannt ich war, Sie zu sehen, als mein Vater mir Ihren Besuch ankündigte... Meine Neugierde war wirklich unbezwinglich, leidenschaftlich, so wie die unserer Mutter Eva... Mein Vater, der so gütig gegen mich ist, und mein Sohn, den ich so lieb habe, genügen ganz gewiß, um die Einsamkeit einer Seele zu beleben, die beinahe schon körperlos ist; aber die Seele ist doch trotzdem eine weibliche geblieben; ich habe das an der kindlichen Freude gemerkt, die mir die Erwartung Ihres Besuches einflößte... Sie werden mir das Vergnügen machen, eine Tasse Tee mit uns zu nehmen, nicht wahr?«
»Der Herr hat mir den Abend zugesagt«, antwortete der Alte mit dem Anstand eines Millionärs, der in seinem Hause die Repräsentationspflichten erfüllt.
August, der auf einem mit Stickerei überzogenen Stuhl an einem kleinen Tisch mit eingelegter Arbeit und Bronzeverzierungen saß, las bei dem Lichte der Kandelaber auf dem Kamin.
»August, mein Kind, sag, daß Johann uns in einer Stunde den Tee bringen soll.«
Sie begleitete diese Worte mit einem ausdrucksvollen Blick, auf den August mit einem Nicken antwortete.
»Würden Sie glauben, mein Herr, daß ich seit sechs Jahren keine andere Bedienung habe als meinen Vater und meinen Sohn, und auch keine andere ertragen könnte? Wenn sie mir fehlten, würde ich sterben... Mein Vater will nicht, daß Johann, ein armer Normanne, der seit dreißig Jahren in unserm Dienst steht, mein Zimmer betritt.
»Das meine ich wohl«, sagte der Alte schlau; »der Herr hat ihn gesehen, wie er Holz spaltete und es hinaufbrachte; er besorgt die Küche und die Gänge; er trägt eine schmutzige Schürze; er würde die ganze Eleganz hier zerstören, die meine Tochter so notwendig braucht, da dieses Zimmer ihre ganze Welt bedeutet...«
»Oh, gnädige Frau, Ihr Herr Vater hat vollkommen recht...«
»Aber warum denn?« sagte sie. »Wenn Johann mein Zimmer beschädigte, so würde es mein Vater wieder neu herstellen lassen.«
»Gewiß, mein Kind; aber dem steht im Wege, daß du es doch nicht verlassen kannst; und die Pariser Tapezierer, die kennst du nicht!... Sie würden drei Monate brauchen, um das Zimmer wieder neu herzustellen. Denke nur daran, was für einen Staub es geben würde, wenn man den Teppich aufnähme. Johann hier aufräumen lassen – wie kannst du nur an so etwas denken!... Nur durch die peinlichste Vorsicht, deren allein ein Vater und ein Sohn fähig sind, haben wir das Ausfegen und den Staub vermieden ... Und wenn Johann bloß zum Bedienen herein käme, wäre es damit in einem Monat zu Ende...«
»Es geschieht ja nicht aus Sparsamkeit,« sagte Gottfried, »sondern Ihres Gesundheitszustandes wegen. Ihr Herr Vater hat recht ...«
»Ich beklage mich ja auch nicht«, versetzte Wanda in kokettem Tone.
Ihre Stimme klang wie Musik. Seele, Bewegung, Leben – alles konzentrierte sich in ihrem Blick und ihrer Stimme; durch Übung, zu der ihr ja die Zeit nicht mangelte, war Wanda dahin gelangt, die Schwierigkeiten, die ihr aus dem Verlust der Zähne erwuchsen, zu überwinden.
»Ich bin immerhin noch glücklich zu nennen, mein Herr, bei all dem Unglück, das über mich hereingebrochen ist; denn der Reichtum hilft sehr, solche Leiden zu ertragen... Wären wir in Not, so würde ich schon vor achtzehn Jahren gestorben sein, so aber lebe ich noch!... Ich kann mir Genüsse verschaffen, die um so
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