Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Manuskripte in dem Vorzimmer nicht zu finden waren. Obgleich sonst weder Bücher noch Manuskripte beschlagnahmt werden dürfen, hätte der von dem alten Richter unterzeichnete Vertrag dieses Vorgehen gerechtfertigt. Aber man konnte sich leicht durch aufschiebende Anträge gegen eine solche Beschlagnahme wehren, was Herr Bernard auch sicher nicht unterlassen hätte. Daher erschien es nötig, mit Verschlagenheit vorzugehen. Deshalb hatte auch die Witwe Vauthier ihren Hauseigentümer wundervoll unterstützt, indem sie die Zahlungsbefehle den Mietern gar nicht zustellte; sie rechnete darauf, sie ins Zimmer werfen zu können, wenn sie mit den Leuten der Justiz hereinkäme, oder nötigenfalls Herrn Bernard zu sagen, daß sie geglaubt hätte, es seien Zustellungen für die beiden Schriftsteller, die seit zwei Tagen abwesend waren.
Das Protokoll über die Beschlagnahme nahm etwa eine Stunde in Anspruch; der Gerichtsvollzieher ließ nichts beiseite und erachtete dann den Wert der beschlagnahmten Sachen für ausreichend zur Bezahlung der Schuld. Sobald der Gerichtsvollzieher sich entfernt hatte, nahm der arme junge Mann die Zahlungsbefehle und eilte fort, um seinen Großvater in der Klinik aufzusuchen, nachdem der Gerichtsvollzieher ihm mitgeteilt hatte, daß die Vauthier bei schwerer Strafe für die beschlagnahmten Gegenstände verantwortlich sei. Er konnte also die Wohnung ohne Bedenken verlassen.
Der Gedanke, seinen Großvater wegen Schulden ins Gefängnis geschleppt zu sehen, machte das arme Kind toll, so toll, wie junge Menschen es werden können, das heißt, er wurde die Beute einer gefährlichen und verhängnisvollen Aufregung, in der alle Kraft der Jugend auf einmal emporschießt und sie ebensowohl schlimme Handlungen wie heroische Taten begehen läßt. Als er in der Rue Basse-Saint- Pierre anlangte, sagte der Portier dem armen August, daß er nicht wisse, was aus dem Vater der Dame geworden sei, die um einhalb fünf Uhr eingeliefert wurde, daß aber Herr Halpersohn verboten habe, irgend jemanden, selbst nicht den Vater, in den nächsten acht Tagen die Dame besuchen zu lassen, da sonst ihr Leben in Gefahr sei.
Dieser Bescheid brachte August vollends außer sich. Er ging wieder nach dem Boulevard Mont-Parnasse zurück, voller Verzweiflung und die wildesten Pläne schmiedend. Gegen einhalb neun Uhr abends kehrte er heim, fast noch nüchtern und derart von Hunger und Schmerz erschöpft, daß er der Vauthier folgte, als sie ihm vorschlug, ihr Abendessen zu teilen, das aus einem Hammelragout mit Kartoffeln bestand. Das arme Kind fiel halb tot neben diesem gräßlichen Weibe auf einen Stuhl. Ermutigt durch die hinterlistigen honigfüßen Worte der Alten, antwortete er auf mehrere geschickt gestellte Fragen über Gottfried und gab ihr zu verstehen, daß der Mieter morgen die Schulden des Großvaters bezahlen würde, denn ihm habe man die glückliche Veränderung ihrer Situation seit einer Woche zu verdanken. Die Witwe hörte diese Eröffnungen mit zweifelndem Gesichtsausdruck mit an und nötigte August, mehrere Glas Wein zu trinken.
Gegen zehn Uhr hörte man das Rollen eines Wagens, der vor dem Hause hielt, und die Witwe rief:
»Da ist Herr Gottfried.«
Sogleich nahm August den Schlüssel seiner Wohnung und ging hinauf, um den Gönner seiner Familie zu begrüßen; aber er fand Gottfrieds Gesicht dermaßen verändert, daß er gezögert hätte, ihn anzureden, wenn nicht die Gefahr, in der sein Großvater schwebte, das edelmütige Kind dazu bestimmt hätte. Inzwischen hatte sich in der Rue Chanoinesse etwas ereignet, was den strengen Ausdruck, den Gottfrieds Gesicht zeigte, erklärt. Rechtzeitig eingetroffen, hatte der Neophyt Frau de la Chanterie und ihre Getreuen im Salon vorgefunden und hatte Herr Nikolaus beiseite genommen, um ihm die vier Bände des »Geistes der neuen Gesetze« zu übergeben. Herr Nikolaus brachte sogleich das Manuskript in sein Zimmer und kam dann wieder zum Essen herunter; nachdem er dann den ersten Teil des Abends verplaudert hatte, ging er wieder hinauf, um mit der Lektüre des Werkes zu beginnen. Gottfried war nun sehr erstaunt, als er wenige Augenblicke nach dem Verschwinden des Herrn Nikolaus durch Manon ersucht wurde, zu ihm hinaufzukommen. Er ging mit Manon zu Herrn Nikolaus und konnte sich gar nicht in seiner Wohnung umsehen, so ergriffen war er von dem bestürzten Gesichtsausdruck dieses sonst so ruhigen, gemessenen Mannes.
»Kennen Sie«, fragte Herr Nikolaus, der wieder der alte
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