Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
hatte sich die Kälte verdoppelt, und das Thermometer zeigte zehn Grad.
Der jüdische Arzt musterte neugierig, wenn auch verstohlen, das Zimmer, in dem ihn sein Besucher vom Tage vorher empfing, und Gottfried bemerkte, daß ein mißtrauischer Gedanke aus seinen Augen wie eine Dolchspitze herausleuchtete. Dieses schnelle Aufflackern eines Verdachtes ließ Gottfried ein kaltes Durchrieseln empfinden, und er dachte daran, daß dieser Mensch in geschäftlichen Angelegenheiten mitleidlos sein mußte; es ist so natürlich, zu glauben, Genie sei immer mit Güte vereint, daß er ein neues Gefühl des Ekels empfand.
»Ich sehe, mein Herr,« sagte er, »daß die Einfachheit meiner Wohnung Sie in Unruhe versetzt; Sie werden sich daher über mein Vorgehen nicht wundern. Hier sind Ihre zweihundert Franken, und hier sind drei Billette, jedes zu tausend Franken,« fügte er hinzu und zog aus seiner Brieftasche die Billette, die ihm Frau de la Chanterie übergeben hatte, um Bernards Werk auszulösen; »sollten Sie aber noch Bedenken wegen meiner Zahlungsfähigkeit haben, so nenne ich Ihnen als Bürgen dafür, daß unsere Abmachungen innegehalten werden, die Bankiers Mongenod in der Rue de la Victoire.«
»Ich kenne sie«, antwortete Halpersohn und steckte die zehn Goldstücke in die Tasche.
›Er wird sie aufsuchen‹, dachte sich Gottfried.
»Und wo wohnt die Kranke«? fragte der Arzt und erhob sich wie ein Mann, der den Wert seiner Zeit kennt.
»Hier, mein Herr«, sagte Gottfried und ging voran, um ihm den Weg zu zeigen.
Der Jude prüfte mit argwöhnischen durchdringenden Augen die Räume, durch die er ging; denn er besaß den Blick eines Spions; so bemerkte er recht gut die schrecklichen Anzeichen der Not durch die Tür des Zimmers, in dem der Richter und sein Enkelsohn schliefen; unglücklicherweise hatte Bernard sich den Anzug geholt, in dem er vor seiner Tochter zu erscheinen pflegte, und in seiner Eile, die Tür zu öffnen, hatte er die seines Hundelochs nicht richtig geschlossen.
Er begrüßte Halpersohn mit vornehmen Anstand und öffnete vorsichtig das Zimmer seiner Tochter. –
»Wanda, mein Kind, hier ist der Arzt«, sagte er. Und er trat beiseite, um Halpersohn vorbeizulassen, der seinen Pelz anbehielt. Der Jude staunte über den Kontrast, den das Zimmer darbot, das in dieser Gegend, und besonders in diesem Hause, eine Anomalie war; aber Halpersohns Erstaunen währte nicht lange, denn er hatte häufig bei deutschen und russischen Juden ähnliche Kontraste zwischen scheinbar äußerstem Elend und verborgenen Reichtümern zu sehen bekommen. Während er von der Tür bis an das Bett der Kranken ging, hörte er nicht auf, sie zu betrachten, und als er am Kopfende anlangte, fragte er sie auf polnisch:
»Sind Sie Polin?«
»Ich nicht, aber meine Mutter war Polin.«
»Wen hat Ihr Großvater, der Oberst Tarlowski, geheiratet?«
»Eine Polin.«
»Aus welcher Provinz?«
»Eine Sobolewska aus Pinsk.«
»Schön. Ist der Herr Ihr Vater?«
»Ja, mein Herr.«
»Mein Herr,« fragte er diesen, »Ihre Frau Gemahlin...«
»Sie ist tot«, antwortete Herr Bernard.
»War sie sehr bleich?« sagte Halpersohn mit einer leichten Bewegung von Ungeduld, daß man ihn unterbrochen hatte.
»Hier ist ihr Bild«, erwiderte Herr Bernard, und nahm einen prächtigen Rahmen von der Wand ab, in dem sich mehrere schöne Miniaturen befanden. Halpersohn befühlte inzwischen den Kopf und das Haar der Kranken, während er das Bild der Wanda Tarlowska, geborenen Gräfin Sobolewska, betrachtete.
»Beschreiben Sie mir jetzt, wie sich Ihre Krankheit äußert.« Und er setzte sich auf das Sofa und sah Wanda während der zwanzig Minuten, die der abwechselnd von Vater und Tochter erstattete Bericht dauerte, starr an.
»Wie alt sind Sie?«
»Achtunddreißig Jahre.«
»Schön,« rief er jetzt und erhob sich, »ich stehe dafür ein, daß sie geheilt wird. Ich kann mich nicht dafür verbürgen, daß sie den Gebrauch der Beine wieder erlangt, aber gesund wird sie werden. Nur muß sie in eine Klinik in meiner Gegend gebracht werden.«
»Aber, mein Herr, meine Tochter ist ja nicht transportabel.«
»Ich übernehme die Verantwortung dafür«, sagte Halpersohn bestimmt; »aber ich übernehme die Verantwortung für Ihre Tochter nur unter dieser Bedingung... Wissen Sie auch, daß sich ihre Krankheit in eine andere schreckliche Krankheit verwandeln wird, die vielleicht ein Jahr oder mindestens sechs Monate dauern wird?... Sie können sie aber besuchen, da
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