Kein böser Traum
Zeitpunkt – nie einen Schüler gehabt, der in der Lage gewesen wäre, den Edlen von La Mancha zu verkörpern. Jetzt, zum ersten Mal, wollte er es mit Wade wagen.
Als es jedoch September wurde, zog Mr. Pearson fort, und Mr. Arnett übernahm seinen Posten als Direktor. Er setzte Vorsprechtermine an – normalerweise für Wade eine reine Formsache –, doch Mr. Arnett zeigte sich nicht beeindruckt. Zum Entsetzen der ganzen Stadt wählte er schließlich Kenny Thomas für die Hauptrolle
aus, einen Nichtskönner. Kennys Vater war Buchmacher, und Mr. Arnett, so hielt sich das Gerücht, schuldete ihm zwanzig Lappen. Da brauchte man nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Wade wurde die Rolle des Barbiers angeboten – eine winzige Nebenrolle –, und er schmiss alles hin.
Und wie naiv er gewesen war: Er hatte geglaubt, sein Abgang werde einen Aufschrei der Empörung in der Stadt hervorrufen. Highschools werden von unterschiedlichen Typen beherrscht: Von dem gut aussehenden Quaterback. Dem Kapitän des Basketballteams. Dem Schuldirektor. Dem Hauptdarsteller einer jeden Schulaufführung. Larue war überzeugt gewesen, die ganze Stadt würde gegen die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, Amok laufen. Aber niemand hatte den Mund aufgemacht. Zuerst dachte Wade, sie hätten Angst vor Kennys Vater und dessen möglichen Mafiaverbindungen, aber die Wahrheit war viel einfacher: Es war ihnen egal. Warum sollten sie sich aufregen?
Es ist so leicht, ins falsche Fahrwasser zu geraten. Der Grat ist schmal und rutschig, auf dem wir uns bewegen. Ein falscher Tritt, die Unachtsamkeit eines Augenblicks, und manchmal, ja manchmal führt dann kein Weg mehr zurück. Drei Wochen später betrank Wade sich, brach in seine Schule ein und zerstörte die Kulissen für das Theaterstück. Er wurde von der Polizei geschnappt und von der Schule verwiesen.
Von da an ging’s bergab.
Mit der Zeit nahm Wade immer mehr Drogen, ging nach Boston, mischte im Drogengeschäft mit, litt unter Verfolgungswahn, trug eine Waffe. Und jetzt war er hier auf diesem Podium gelandet, er ein bekannter Schwerverbrecher, dem man den Tod von achtzehn Menschen anlastete.
Die Gesichter, die zu ihm aufsahen, waren ihm bereits aus seinem Prozess vor fünfzehn Jahren vertraut. Wade kannte die meisten mit Namen. Bei den Verhandlungen damals hatten sie ihn mit einer Mischung aus Trauer und Verwirrung angesehen, wie benommen
von dem plötzlichen Schicksalsschlag. Damals hatte Wade sie verstanden, ja sogar Mitgefühl für sie empfunden. Jetzt, fünfzehn Jahre später, waren die Blicke feindseliger. Trauer und Verwirrung waren zu Wut und Hass kondensiert. Beim Prozess war Wade Larue diesen Blicken noch ausgewichen. Damit war es vorbei. Er trug den Kopf hoch erhoben. Er sah ihnen in die Augen. Sein Mitgefühl, sein Verständnis, war durch die ausgebliebene Bereitschaft, ihm zu vergeben, sichtbar reduziert worden. Er hatte nie die Absicht gehabt, jemandem ein Leid zuzufügen. Das wussten sie. Er hatte sich entschuldigt. Er hatte einen hohen Preis bezahlt. Sie, diese Familien, hatten ihren Hass dennoch gepflegt und konserviert.
Zum Teufel mit ihnen.
Sandra Koval neben ihm seifte sie mit ihrer Beredsamkeit ein. Sie sprach von Verzeihen und Vergeben, von Neuanfang und Sinneswandel, von Verständnis und dem menschlich verständlichen Wunsch nach einer zweiten Chance. Larue hörte einfach nicht mehr hin. Er entdeckte Grace Lawson neben Carl Vespa. Beim Anblick Vespas hätte ihn panische Angst ergreifen müssen, doch nein, auch darüber war er hinweg. Während der ersten Tage im Gefängnis war Wade übel zusammengeschlagen worden – zuerst von Leuten, die für Vespa arbeiteten, und dann von denen, die sich dadurch einen Vorteil versprachen. Wärter eingeschlossen. Wade war ein Gefangener seiner eigenen Angst geworden, und aus diesem Käfig hatte es kein Entrinnen gegeben. Die Angst war wie der Gestank ein natürlicher Bestandteil seines Lebens, seiner Welt geworden. Vielleicht erklärte das, weshalb er mittlerweile gegen beides immun war.
Irgendwann hatte Larue in Walden doch Freundschaften geschlossen. Aber entgegen alledem, was Sandra Koval jetzt ihrem Publikum erzählte, war ein Gefängnis keine Charakterschmiede. Eine Haftanstalt reduziert den Menschen auf die unterste Stufe seiner Existenz, auf den Zustand eines Primaten. Und alles, was man nur anstellt, um zu überleben, ist niemals nett. Egal. Jetzt
war er draußen. Das gehörte der Vergangenheit an. Das Leben ging
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