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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Vespa Grace. Er stellte keine weitere Frage. Er bat um keinerlei Erklärung. Er wandte sich einfach nur ab und starrte aus dem Fenster. Er sagte kein Wort mehr, bis der Wagen in ihre Einfahrt einbog. Grace wollte die Tür öffnen, um auszusteigen, doch sie war verriegelt. Wie bei der Kindersicherung in meinem Wagen, dachte sie. Der bullige Fahrer kam zu ihrer Seite und griff nach dem Türgriff. Sie wollte Carl Vespa fragen, was er nun zu tun gedenke, ob er sie in Ruhe lassen wolle, doch seine Körpersprache verbot es ihr.
    Ihn überhaupt angerufen zu haben, war ein Fehler gewesen. Und indem sie ihm jetzt sagte, dass sie seine Hilfe nicht mehr wollte, hatte sie möglicherweise alles noch schlimmer gemacht.
    »Meine Männer bleiben auf dem Posten, bis Sie Ihre Kinder von der Schule geholt haben«, erklärte er, ohne sie anzusehen. »Danach sind Sie auf sich allein gestellt.«
    »Danke.«
    »Grace?«
    Sie sah zu ihm zurück.
    »Sie sollten mich nie belügen.«
    Seine Stimme war eisig. Grace schluckte schwer. Sie wollte etwas entgegnen, ihm sagen, dass sie nicht gelogen hatte, doch sie fürchtete, dadurch nur noch mehr in die Defensive zu geraten. Also nickte sie nur.
    Sie verabschiedeten sich nicht voneinander. Grace ging allein
die Auffahrt entlang. Sie schwankte, und daran war nicht nur ihr krankes Bein schuld.
    Was hatte sie getan?
    Sie fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Ihre Schwägerin hatte es am besten ausgedrückt: Beschütze die Kinder. Wäre Grace an Jacks Stelle, wäre sie aus irgendeinem Grund plötzlich verschwunden, dann wäre das auch ihr Wunsch gewesen. Denk nicht an mich, würde sie ihm sagen. Sorge für die Sicherheit der Kinder.
    Damit war ihre Rolle als Retterin ihres Mannes beendet, ob es ihr gefiel oder nicht. Von nun an war Jack auf sich allein gestellt.
    Sie würde packen. Sie wollte bis drei Uhr warten, bis die Schule aus war, und dann würde sie die Kinder abholen und mit ihnen nach Pennsylvania fahren. Sie würde sicher ein Hotel finden, wo man keine Kreditkarte brauchte. Oder eine Pension. Oder ein Fremdenheim. Was auch immer. Sie würde die Polizei anrufen. Vielleicht sogar diesen Perlmutter. Sie würde ihm sagen, was los war. Aber zuerst musste sie die Kinder bei sich haben. Sobald sie in Sicherheit waren, sobald sie die beiden sicher in ihrem Wagen hatte und auf der Landstraße war, war alles in Ordnung.
    Sie erreichte ihre Haustür. Auf der Treppe lag ein Paket. Sie bückte sich und hob es auf. Die Schachtel trug einen Poststempel aus New Hampshire. Der Absender lautete: Bobby Dodd, Sunrise Seniorenwohnheim.
    Es waren Bob Dodds Papiere.

40
    Wade Larue saß neben seiner Anwältin Sandra Koval.
    Er trug nagelneue Kleidung. Der Saal roch nicht nach Gefängnis, nicht nach jener scheußlichen Mischung aus Fäulnis und Desinfektionsmitteln, aus fetten Gefängniswärtern und Urin, aus Rückständen jedweder Art, die sich nicht beseitigen lassen und die
an sich schon ein seltsames Geruchsgemisch bildeten. Ein Gefängnis wird irgendwann zu deiner Welt, die Freilassung zu einem irrealen Tagtraum, unvorstellbar wie das Leben auf einem anderen Planeten. Wade Larue war mit zweiundzwanzig hineingekommen. Jetzt war er siebenunddreißig. Das bedeutete, dass er den größten Teil seines Lebens als Erwachsener hinter Gittern verbracht hatte. Dieser Geruch, dieser widerliche Gestank war alles, was er kannte. Ja, er war noch jung. Er hatte, wie Sandra Koval gebetsmühlenhaft wiederholte, sein ganzes Leben noch vor sich.
    Im Augenblick allerdings kam ihm das überhaupt nicht so vor.
    Eigentlich hatte eine Schulaufführung Wade Larues Leben ruiniert. Er war in einer Kleinstadt in Maine aufgewachsen, wo alle der einhelligen Meinung gewesen waren, dass Wade das Talent zum Schauspieler hatte. Er war ein lausiger Schüler. Er war ein mäßiger Sportler. Aber er konnte singen und tanzen, und was am wichtigsten war, er hatte, was einer der Reporter des Lokalblatts  – nachdem er Wade in der Hauptrolle als Nathan Detroit in Guys and Dolls gesehen hatte – eine geradezu »übernatürliche Ausstrahlung« genannt hatte. Wade hatte jenes gewisse Etwas, jenes Unfassbare, das talentierte Möchtegerne von den echten Cracks unterscheidet.
    Vor seinem letzten Jahr an der Highschool rief Mr. Pearson, der Direktor der Theatergruppe, Wade in sein Büro, um ihm von seinem »ewigen Traum« zu erzählen. Mr. Pearson hatte von jeher den Wunsch gehegt, Don Quichotte zu inszenieren, hatte jedoch – bis zu diesem

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