Kein böser Traum
verstanden hatte, Graces Welt erneut in Stücke reißen musste. Doch so war es nicht. Der Autopsiebericht war lediglich die objektive Bestätigung dessen, was sie bereits wusste. Jack war ihr Ehemann gewesen. Sie hatte ihn geliebt. Sie hatten dreizehn Jahre zusammengelebt. Sie hatten zwei Kinder. Und
während er ganz zweifellos Geheimnisse vor ihr gehabt hatte, gibt es Dinge, die ein Mann vor seiner Frau nicht verbergen kann.
Manche Dinge lassen sich nicht verstecken.
Also hatte Grace Bescheid gewusst.
Sie kannte seinen Körper. Sie kannte seine Haut. Sie kannte jeden Muskel an seinem Rücken. Daher brauchte sie den Autopsiebericht nicht wirklich. Die Ergebnisse der äußeren pathologischen Untersuchung brauchte sie nicht. Sie stellten lediglich fest, was sie längst wusste.
Jack hatte keine größeren Narben am Körper gehabt.
Und das bedeutete, dass – im Gegensatz zu dem, was Jimmy gesagt hatte, im Gegensatz zu dem, was Gordon MacKenzie Wade Larue erzählt hatte – Jack niemals eine Schusswunde erlitten hatte.
Zuerst suchte Grace das Fotolabor auf und stellte Sauerkrautbart Josh zur Rede. Dann fuhr sie zurück nach Bedminster, zu der Wohnanlage, in der Shane Alworth’ Mutter lebte. Danach arbeitete sie sich durch die Rechtsbestimmungen des Treuhandfonds von Jacks Familie. Grace kannte einen Anwalt aus Livingston, der inzwischen als Sportagent in Manhattan arbeitete. Er errichtete ständig Treuhandfonds für seine wohlhabenden Athleten. Er überprüfte die Bestimmungen und erklärte Grace so viel, dass sie alles verstand.
Und dann, als sie alle Fakten hübsch beieinander hatte, stattete sie Sandra Koval, ihrer Schwägerin, in der Kanzlei von Burton und Crimstein in New York einen Besuch ab.
Diesmal holte Sandra Koval Grace nicht persönlich an der Empfangstheke der Kanzlei ab. Grace betrachtete gerade die Fotoserie an der Wand, als eine Frau in einer Country-Bluse sie bat, ihr
zu folgen. Sie führte Grace einen Korridor entlang und in genau das Konferenzzimmer, in dem sie und Sandra sich vor einem halben Leben zum ersten Mal gesprochen hatten.
»Mrs. Koval ist gleich bei Ihnen.«
»Prima.«
Grace blieb allein. Das Zimmer hatte sich seit jenem ersten Mal nicht verändert. Allerdings lag diesmal ein gelber Schreibblock mit Stift vor jedem Stuhl auf dem Tisch. Grace wollte sich nicht setzen. Sie lief, oder vielmehr hinkte, auf und ab und ging im Kopf noch einmal alles durch. Ihr Handy zirpte. Sie telefonierte kurz und schaltete es dann aus. Dennoch behielt sie es in Reichweite. Für alle Fälle.
»Hi, Grace.«
Sandra Koval rauschte in den Raum wie eine Schlechtwetterfront. Sie ging geradewegs zu dem kleinen Kühlschrank, öffnete ihn und spähte hinein.
»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Nein.«
Den Kopf noch im Mini-Kühlschrank fragte sie: »Wie geht’s den Kindern?«
Grace antwortete nicht. Sandra Koval förderte eine Flasche Perrier zutage. Sie schraubte den Verschluss auf und setzte sich.
»Also, was gibt’s?«
Sollte sie erst mal mit dem Zeh die Temperatur fühlen oder gleich ins kalte Wasser springen, überlegte Grace. Sie entschied sich für Letzteres. »Ich war nicht der Grund, aus dem du Wade Larue als Mandanten angenommen hast«, begann sie unvermittelt. »Du hast das Mandat übernommen, weil du an ihm dranbleiben wolltest.«
Sandra Koval goss sich Perrier in ein Glas. »Das mag – hypothetisch gesehen – richtig sein.«
»Hypothetisch gesehen?«
»Ja. Rein hypothetisch habe ich Wade Larue vielleicht vertreten,
um ein gewisses Familienmitglied zu schützen. Aber falls dem so gewesen sein sollte, hätte ich immer dafür gesorgt, meinem Mandanten mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln den effektivsten Rechtsbeistand zu gewährleisten.«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe?«
»Vielleicht.«
»Und das gewisse Familienmitglied. Das wäre dann dein Bruder gewesen?«
»Durchaus möglich.«
»Möglich«, wiederholte Grace. »Aber so ist es in diesem Fall nicht gewesen. Du hattest nicht im Sinn, deinen Bruder zu schützen.«
Ihre Blicke trafen sich.
»Ich weiß Bescheid«, sagte Grace.
»Ach ja?« Sandra trank einen Schluck. »Dann klär mich auf.«
»Du bist – wie alt? – siebenundzwanzig gewesen? Frisch von der Uni und hast als Strafverteidigerin gearbeitet?«
»Ja.«
»Du warst verheiratet. Deine Tochter war zwei Jahre alt. Du hattest eine viel versprechende Karriere vor dir. Und dann hat dein Bruder alles vermasselt. Du bist in jener Nacht dabei
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